Die Anekdote „Neuanfang“ steht beispielhaft für den Themenschwerpunkt „Freiheit und Verantwortung“. In dieser Anekdote wird in verdichteter Form beschrieben, wie sich eine Lehrkraft nach dem Umbruch 1989/90 an das Wegfallen von Vorgaben und an die neuen Möglichkeiten der Gestaltung ihres Unterrichts erinnert. Die Lehrerin spricht die Freiheit an, neue Lehr-Lern-Kulturen auszuprobieren – eine Freiheit, die zugleich untrennbar mit der persönlichen Verantwortungsübernahme für das eigene Handeln verbunden ist. Um verantwortlich handeln zu können, so der Philosoph Ludger Heidbrink, benötigt ein Mensch neben Moralbewusstsein und praktischem Handlungswissen auch Fähigkeiten des Umgangs mit Unsicherheit. Die Erinnerung dieser berufserfahrenen Lehrerin aus der Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs passt zu den Erfahrungen junger Berufseinsteiger:innen von heute.
Aus bildungshistorischer Sicht zeigt die Anekdote „Neuanfang“, wie ehemalige DDR-Lehrkräfte die Transformationszeit erlebten. Sie suchten nach Orientierung und nach einem passenden Verhältnis zwischen ihrem bisherigen beruflichen Denken und den neuen Möglichkeiten des Unterrichtens (neuen Methoden, Sozialformen und Materialien). Viele probierten Neues aus, hielten aber gleichzeitig an Bewährtem fest.
Die Anekdote spricht außerdem überdauernde Widersprüche an, die typisch für den Lehrerberuf sind und das pädagogische Handeln grundlegend bestimmen. Zum einen zeigt sich die sogenannte Individualisierungsantinomie. Sie bezeichnet die mit einer größeren Freiheit einhergehende Spannung zwischen Chancen einerseits und gleichzeitigem Verlust von haltgebenden Strukturen sowie einer gesteigerten Selbstverantwortlichkeit und Entscheidungslast andererseits. Zum anderen wird in der Spannung zwischen der Ungewissheit über die Methodenwahl und dem Vermittlungsversprechen, dass die Kinder Lesen, Schreiben und Rechnen lernen, auch die sogenannt Ungewissheitsantinomie deutlich.
Eine junge Lehrerin assoziierte diese Ungewissheit nach dem Lesen der Anekdote mit bildungspolitischen Diskursen der heutigen Zeit, in denen ein Gegensatz zwischen dem Lesen-, Schreiben- und Rechnen-Lernen und offenen Unterrichtskulturen konstruiert wird – ein für sie unhaltbares Argument, das Inhalt und Methode in einen nicht begründbaren Kausalzusammenhang setzt. Ihr Kommentar: Warum sollten Kinder nicht in einer Stationsarbeit Lesen, Schreiben und Rechnen lernen können?
Weitere Ausstellungskategorien
Bildung