Anekdote „Neuanfang“

Schwellen & Grenzen

Exponatentyp
Erinnerungstext
Datum
07.10.2024
Dauer
00:36 min

Anekdote „Neuanfang“

Schwellen & Grenzen

„Neuanfang“ gehört zu einer Sammlung von insgesamt 40 kurzen Anekdoten. Sie beruhen auf Gruppengesprächen mit ehemaligen DDR-Heimatkundelehrkräften. Es handelt sich um prägnante Erzählungen über individuelle Erfahrungen mit dem gesellschaftlichen und beruflichen Umbruch nach 1989. Im Fokus steht das persönliche Erleben von Veränderungen im Bildungssystem und besonders im Heimatkundeunterricht.

Anekdote „Neuanfang“

Erinnerte Erfahrungen ehemaliger Heimatkundelehrer:innen der DDR an die Transformationszeit – Anekdote „Neuanfang“

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Allgemeine Informationen

Titel: Erinnerte Erfahrungen ehemaliger Heimatkundelehrerinnen der DDR an die Transformationszeit – Anekdote „Neuanfang“

Medienart: Erinnerungstext, Dokument

Autorinnen: Sandra Tänzer, Isabelle Lamperti, Isabell Tucholka

Jahr: 2024

Gesamtlänge: 1 Seite

besitzende Institution: Universität Erfurt

Empfohlene Zitierweise: Sandra Tänzer, Isabelle Lamperti, Isabell Tucholka: Erinnerte Erfahrungen ehemaliger Heimatkundelehrerinnen der DDR an die Transformationszeit – Anekdote „Neuanfang“. Erfurt 2024. Abgerufen unter: https://dut-ausstellung.de/source/anekdote-neuanfang/.

Quelle in der digitalen Sammlung der Thulb

Transkript

NEUANFANG

Sie kann sich noch an das Kribbeln im Bauch erinnern. Es war auf einmal so viel möglich, eine ganze Welt offen. „Für mich war das ein Neuanfang, auf allen Ebenen.“ Ausprobieren konnten sie jetzt, ganz offiziell. Ohne Angst, gegen irgendeine Vorgabe zu verstoßen. Sie muss fast lachen, als sie an ihre allererste Stationsarbeit denkt, die Kinder völlig überfordert, sie selbst fast noch mehr. „Es war aber auch eine unwahrscheinliche Verantwortung“, wirft sie ein. Immerhin sollten die Kinder Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Aber es hatte sich trotzdem gut angefühlt. So viele Möglichkeiten. Und es war sogar richtig gewollt, offenes Arbeiten. Einen Moment scheinen alle in Erinnerungen versunken, einige nicken gedankenverloren. „Und trotzdem haben wir eigentlich nie unsere Werte vergessen.“

Interpretationsvorschläge

Die Anekdote „Neuanfang“ steht beispielhaft für den Themenschwerpunkt „Freiheit und Verantwortung“. In dieser Anekdote wird in verdichteter Form beschrieben, wie sich eine Lehrkraft nach dem Umbruch 1989/90 an das Wegfallen von Vorgaben und an die neuen Möglichkeiten der Gestaltung ihres Unterrichts erinnert. Die Lehrerin spricht die Freiheit an, neue Lehr-Lern-Kulturen auszuprobieren – eine Freiheit, die zugleich untrennbar mit der persönlichen Verantwortungsübernahme für das eigene Handeln verbunden ist. Um verantwortlich handeln zu können, so der Philosoph Ludger Heidbrink, benötigt ein Mensch neben Moralbewusstsein und praktischem Handlungswissen auch Fähigkeiten des Umgangs mit Unsicherheit. Die Erinnerung dieser berufserfahrenen Lehrerin aus der Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs passt zu den Erfahrungen junger Berufseinsteiger:innen von heute.

Aus bildungshistorischer Sicht zeigt die Anekdote „Neuanfang“, wie ehemalige DDR-Lehrkräfte die Transformationszeit erlebten. Sie suchten nach Orientierung und nach einem passenden Verhältnis zwischen ihrem bisherigen beruflichen Denken und den neuen Möglichkeiten des Unterrichtens (neuen Methoden, Sozialformen und Materialien). Viele probierten Neues aus, hielten aber gleichzeitig an Bewährtem fest.

Die Anekdote spricht außerdem überdauernde Widersprüche an, die typisch für den Lehrerberuf sind und das pädagogische Handeln grundlegend bestimmen. Zum einen zeigt sich die sogenannte Individualisierungsantinomie. Sie bezeichnet die mit einer größeren Freiheit einhergehende Spannung zwischen Chancen einerseits und gleichzeitigem Verlust von haltgebenden Strukturen sowie einer gesteigerten Selbstverantwortlichkeit und Entscheidungslast andererseits. Zum anderen wird in der Spannung zwischen der Ungewissheit über die Methodenwahl und dem Vermittlungsversprechen, dass die Kinder Lesen, Schreiben und Rechnen lernen, auch die sogenannt Ungewissheitsantinomie deutlich.

Eine junge Lehrerin assoziierte diese Ungewissheit nach dem Lesen der Anekdote mit bildungspolitischen Diskursen der heutigen Zeit, in denen ein Gegensatz zwischen dem Lesen-, Schreiben- und Rechnen-Lernen und offenen Unterrichtskulturen konstruiert wird – ein für sie unhaltbares Argument, das Inhalt und Methode in einen nicht begründbaren Kausalzusammenhang setzt. Ihr Kommentar: Warum sollten Kinder nicht in einer Stationsarbeit Lesen, Schreiben und Rechnen lernen können?

Weitere Ausstellungskategorien

Bildung

Bildbeschreibung

Ein farbenfrohes Wandbild des spanischen Künstlers Josep Renau mit dem Titel „Die Beziehung des Menschen zu Natur und Technik“, auf dem zwei geöffnete Hände zu sehen sind. In der rechten Hand befindet sich ein Apfel und in der linken Hand ein Prisma. Auf der Seite der rechten Hand symbolisieren Pflanzen die Natur. Auf der Seite der linken Hand versinnbildlichen geometrische Formen und ein Zirkel die Technik. Zwischen den Händen befinden sich die weiblichen und männlichen Gender-Symbole.