Gewalt am Arbeitsplatz: Interview mit Lydia Rabe (Pseudonym)

Träume & Albträume

Exponatentyp
Audio, Zeitzeug:innen-Interview
Datum
02.12.2020
Dauer
02:17 min

Gewalt am Arbeitsplatz: Interview mit Lydia Rabe (Pseudonym)

Träume & Albträume

Lydia Rabe ist verheiratet und Mutter von drei Töchtern. Nach 1990 erlebt sie 18 Jahre berufliche Unsicherheit. Diese Zeit ist geprägt von Weiterbildungen und befristeten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM). Lydia Rabe erhält drei fristlose Kündigungen, arbeitet in der Montage und erlebt immer wieder demütigende Situationen. Erst 2008 findet sie eine dauerhafte Anstellung als Landschaftsgärtnerin. Euphorische Gefühle zum Mauerfall sind Lydia Rabe bis heute fremd.

Das Interview mit Lydia Rabe wird im Dezember 2020 geführt. Es ist Teil eines größeren Oral-History-Projekts zur Dokumentation persönlicher Erfahrungen in der Transformationszeit nach 1989. Die Gespräche bieten Einblicke in die persönlichen Erlebnisse und Perspektiven der Befragten.

Eine blonde Frau sitzt im Führerhaus eines Baggers. Das Bild ist verpixelt, die Frau ist nicht zu identifizieren.

Lydia Rabe (Pseudonym), geb. 1960 im Bezirk Suhl, DDR

Allgemeine Informationen

Titel: Interview mit Lydia Rabe (Pseudonym)

Medienart: Zeitzeuginnen-Interview

Interview: Dr. Patrice Poutrus

Jahr: 2020

Gesamtänge: 02:17:04 h

Besitzende Einrichtung: Oral-History-Forschungsstelle an der Universität Erfurt

Empfohlene Zitierweise: Interview mit Lydia Rabe (Pseudonym), 02.12.2020. Abgerufen unter: https://dut-ausstellung.de/source/interview-mit-lydia-rabe-pseudonym-geb-1960-im-bezirk-suhl-ddr/.

Quelle in der digitalen Sammlung der Thulb

Gesamtes Interview auf Oral-History.Digital (Anmeldung erforderlich)

Transkript

Lydia Rabe [L.R.]: „2002 war ich in einer Zeitarbeitsfirma, und zwar haben- in der Autoindustrie. Für BMW an so einem- an einem Band. Also, dort wurden Autotüren für, für BMW- oder für andere Autos auch, aber ich, ich war an der Linie BMW. Und da wurden die Autotür vom Rohling, also dieses Innenleben vom Auto, nicht das außen das Blech, sondern das Innere, gepresst. Und dann kam das Leder drauf, diese Kartentaschen rein, diese Griffe, dies, ja? Und an dieser Linie war ich. Und über die Zeitarbeitsfirma eingesetzt. Und das war richtig-, /das war richtig …“

Patrice Poutrus [P.P.]: „Ja, ja.“

L.R.: „Akkordarbeit.“

P.P.: „Ja, ja.“

L.R.: „Also, als Ungelernter. Und du wusstest, die Festangestellten, die kriegen- ich glaube, wir haben nicht mal die Hälfte von dem Festan-; wir mussten dieselbe Leistung bringen, weil die haben ja Leistungszuschläge gekriegt, und wir nicht als Zeitarbeiter. Du- aber weil wir ja in dieser Linie waren, mussten wir ja, damit die ihren Leistungslohn kriegen, genauso schnell und genauso das machen wie die! Und da habe ich immer gedacht: ,Ey, du bist-‚ Und dann, dann- und dann habe ich immer so nachgedacht: ,Du, du-‚ Ich wollte immer diese DDR-Zeit wiederhaben. Ich dachte: ,Du wirst- du bist ein richtiger Sklave.‘ Ich habe mich echt so gefühlt. Jedenfalls, irgendwann hast du dich da auch eingearbeitet, aber immer für diesen geringen Lohn. Du hast nie irgendwie einen Zuschlag gekriegt, du hast wirklich immer diesen geringen Lohn, ich glaube, das waren 6 Euro oder so. Oder war das, war das, wann kam die, die, ja, egal, irgendwas mit…“

P.P.: /„2003, aber“

L.R.: „Jaja, die, die Währungsunion war 2000.“

P.P.: „Drei, glaube ich.“

L.R.: „Drei, gell? Das war noch davor. Auf jeden Fall war es ganz wenig Geld. Und musstest trotzdem diese Leistung bringen. Naja, und dann wurde ich von der (schmunzelt) das war dann vor Weihnachten, das vergesse ich nicht. Da haben sie, bei uns ist eine Bäckerei im, in einem, auch in so einer kleinen Stadt. Du müsstest jetzt in dieser Bäckerei arbeiten. Und, naja, ich war ja auch noch nie in einer Bäckerei, gell? Und das war ja auch Akkordarbeit an so einem Band. An, auf, die verschiedensten Arbeiten. Jeden Tag irgendwas anderes, wo du auch immer gleich diese Leistung bringen musstest wie die, die immer da arbeiten, gell? Und die, das konntest du gar nicht. Das ist ja unmöglich, gell? Wenn jemand zehn Jahre das macht und du kommst den ersten Tag und, auf jeden Fall, du hast dich da auch reingearbeitet, das ging so ein paar Wochen. Und dann habe ich aber gemerkt, also das, die, du bleibst doch nicht in dieser Bäckerei. Das ist, das ist keine Arbeit für dich. Also, da war, du wurdest nur an, du wurdest angebrüllt von den Vorarbeitern, wenn irgendwas, ich war mal an so einer Verpackungsmaschine, und, und das Band lief so schnell, dass diese Verpackungsmaschine das nicht geschafft hat. Und da sind immer die Torten davor runtergefallen. Und da habe ich die aufgehoben und in den Container geschmissen, die runtergefallen waren. Auf einmal brüllt mich von hinten: ,Du spinnst wohl! Die Torten sind eingefroren, siehst du was da dran? Du kannst nicht die Torten wegschmeißen!‘ Da musste ich die ganzen Torten, die unten lagen, wieder aufs Band. Und dann bin ich auch mal nicht hinterhergekommen, da musste ich Bleche auflegen und die Bleche flogen immer runter. Weil das durch so eine Maschine nicht ging. Auf einmal kommt mir, ich musste den Kopf einziehen, ein Blech entgegengeflogen. ,Du bist wohl zu blöd zum Arbeiten!‘ Ich sage: ,Hier stimmt aber was an-‘ ,Ja, da stimmt, bei dir stimmt irgendwas nicht!‘ Na, jedenfalls musste ich dann Strafarbeit machen, weil ich das nicht geschafft habe, und musste in so eine Kesselwaschküche. Und von dort aus konnte ich genau den Arbeitsplatz sehen. Da wurde ein Festangestellter hingestellt. Und dem ging es genauso. Dem sind die Bleche runterge-, bis, die Maschine war kaputt. Da kam keiner und hat sich entschuldigt oder irgendwas. Da bin ich zu meiner Zeitarbeitsfirma und habe gesagt: ,Ich gehe da nicht mehr hin, in diese Bäckerei.‘ Und da haben die gesagt: ,Natürlich gehen Sie dahin.‘ Ich habe und da habe ich das denen gesagt. ,Ach, was Sie nur haben!‘ Ich habe gesagt: ,Ich gehe nicht mehr in diese Bäckerei. Ich möchte wieder zurück in die Autoindustrie an diesen Arbeitsplatz.‘ Das war ja dann immer noch besser (lacht) wie, wie dort. Und, ‘ne, dann kriegen Sie eine fristlose Kündigung.‘  Und dann dachte ich: ,Das kannst du, das glaubst du doch nicht. Nur weil du irgendwie, was hast du verbrochen, du hast nichts gemacht. Kriegst sch-‘, habe ich wieder eine fristlose Kündigung gekriegt. Das war schon die zweite in meinem Leben. Und da habe ich so gedacht: ,Das lässt du dir jetzt nicht bieten.‘ Und da sagte nur mal nebenbei jemand: ,Sag mal, ihr Leiharbeiter, habt ihr überhaupt einen Gesundheitspass?‘ Ich so: ,Ich habe keinen Gesundheitspass.‘ ,Das ist aber komisch, den brauchen wir da.‘ ,Ach‘, dachte ich, ,jetzt fragst du mal auf dem Gesundheitsamt nach.‘ Da habe ich auf dem Gesundheitsamt nachgefragt: ,Wie ist denn das eigentlich. Wenn ich in einer Bäckerei arbeite. Mal so. Muss ich da einen Gesundheitspass haben?‘ ,Natürlich brauchen Sie da einen Gesundheitspass!‘ Ich sage: ,Auch wenn man mal nur ein paar Tage-‘ ,Das ist- auch wenn Sie ein Auto fahren mal paar Tage, brauchen Sie eine Fahrerlaubnis.‘ Da sage ich: ,Es gibt da-‚ Ah, da habe ich erstmal nichts weitergesagt. Habe ich dort bei meiner Zeitarbeitsfirma angerufen. Dachte ich: ,Jetzt sitzt du am längeren Hebel.‘ Und da habe ich gesagt: ,Ich habe keinen Gesundheitspass und arbeite in einer Bäckerei. Und ich melde das dem Gesundheitsamt. Oder ich kriege jetzt eine fristgerechte Kündigung.‘ Und da habe ich binnen fünf Minuten eine fristgerechte Kündigung gekriegt. Und da war ich erstmal wieder bisschen, dass du doch auch was erreichen, also, dass du dir nicht alles gefallen lassen musst. Gell? War ich halt wieder arbeitslos. (Lacht) Und dann kam das vom Arbeitsamt: ,Sie können eine Umschulung als Landschaftsgärtner machen.‘“

Interpretationsvorschläge

Ende der 1970er Jahre absolvierte Lydia Rabe ihre Lehre zur Facharbeiterin für Zootechnik/Mechanisation in der industriemäßigen Schweineproduktion. Ihre Berufslaufbahn bestand danach aus verschiedenen Handwerks- und Aushilfsjobs: Sie arbeitete bei einer Großhandelsgesellschaft und als Küchenhilfe beim Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB). Von 1987 bis 1988 war sie SED-Bürgermeisterin in einem Dorf bei Saalfeld. An diese Tätigkeit erinnert sie sich sehr negativ, da sie dabei erstmals die Ineffizienz des Systems unmittelbar erlebte. Die revolutionäre Stimmung kurz vor dem Ende der DDR hat sie hauptsächlich als beängstigend und befremdlich wahrgenommen. Ihr erster Gedanke nach dem Mauerfall war: „Ich will ganz tief im Wald sein.“

Ihre Aushilfstätigkeit in einem Kälberstall, die sie von 1989 bis 1993 ausübte, bot ihr keine sichere Grundlage für die kommenden Jahre. Sie wurde 1993 arbeitslos und musste 1994 zur Facharbeiterin für Güter-/Fernverkehr umschulen. Im Anschluss nahm sie 1994 eine Tätigkeit als Transportfahrerin auf. 1995 bis 1997 übernahm sie eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM) in einem Forstrevier. Darauf folgten weitere ABM: als Vorarbeiterin in einem Schieferbruch, erneut in einem Forst, in der Autoindustrie sowie in einer Bäckerei. Nach einer Umschulung zur Landschaftsgärtnerin von 2004 bis 2006 und zwei weiteren Jahren Aushilfstätigkeit konnte Lydia Rabe ab 2008 endlich ihren beruflichen Alltag beständig bestreiten.

Ihre Erlebnisse mit Arbeitslosigkeit, Unsicherheit und Orientierungslosigkeit spiegeln sich in ihren Schilderungen wider: So berichtet sie, dass sie im Rahmen der ABM wie „ein richtiger Sklave“ behandelt wurde, mehrfach wegen kleinster Anlässe fristlos entlassen wurde und infolgedessen „am ganzen System gezweifelt“ habe. Diese Erfahrungen teilt sie mit vielen anderen Ostdeutschen. Denn verbunden mit dem Strukturwandel nach dem Ende der DDR wurden bis 1992 über 1 Million Menschen in Ostdeutschland arbeitslos. Die Zahl der Arbeitslosen in Ostdeutschland stieg bis zum Ende der 1990er Jahre weiter an und auch in der Zeit zwischen 1997 und 2006 waren ca. 18 % der Ostdeutschen im erwerbsfähigen Alter ohne Arbeit. Besonders betroffen von Arbeitslosigkeit waren Frauen, die im Vergleich zu Männern häufiger und länger arbeitslos blieben.

In Statistiken zur Arbeitslosigkeit werden kurzfristige Tätigkeiten in Zeitarbeitsfirmen bzw. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, wie Lydia Rabe sie im Interview beschreibt, nicht berücksichtigt. Diese und weitere sogenannte atypische Beschäftigungsverhältnisse, wie Kurzarbeit oder Umschulungen, haben für viele Ostdeutsche in den 1990er und 2000er Jahren eine große Rolle gespielt. So nahm zwischen November 1989 und November 1994 über die Hälfte aller erwerbsfähigen Ostdeutschen an mindestens einer ABM teil.

Weitere Ausstellungskategorien

Gewalträume/Schutzräume

Quellenkritik

Im Interview mit Lydia Rabe wird deutlich, dass sie sich in Zeiten beruflicher Unsicherheit „diese DDR-Zeit“ zurückwünschte. Sie beschreibt, wie sie im vereinigten Deutschland in Zeitarbeitsfirmen als „Sklave“ behandelt, „angebrüllt“ und dreimal fristlos entlassen wurde. Sie hebt damit die Vorteile ihres geregelten und voraussehbaren Berufslebens in der DDR hervor. An anderer Stelle im Interview berichtet sie aber auch von den Schwierigkeiten, die sie als DDR-Bürgermeisterin erlebte, und davon, wie sie die Grenzen des Systems deutlich zu spüren bekam – bis sie schließlich ihr Amt niederlegte.

Das Interview gehört zu insgesamt 82 narrativen, leitfadengestützten Interviews, die Dr. Patrice Poutrus von Februar 2020 bis Herbst 2022 führte. Ausgangspunkt des Projektes war die Annahme, dass nicht allein individuelle und kollektive Erfahrungen während der DDR selbst, sondern ebenso die tiefen biographischen Umbruchserfahrungen der Nachwendezeit die Erinnerung an die DDR prägen. Aus den politischen Debatten der Jahre 1989/90 erwuchs im darauffolgenden Jahrzehnt ein Erinnerungskonflikt, der bis heute nachwirkt. Geleitet wurden die Interviews von folgenden Forschungsfragen: Aus welchen konkreten Erfahrungen der späten DDR und Transformationszeit speisen sich gegenwärtige Erinnerungen? Wie werden diese ausgedrückt und überliefert? Wie passen diese Erinnerungen zu den vielen öffentlichen Darstellungen der DDR? Helfen diese Darstellungen dabei, sich ein genaues Bild von der Geschichte zu machen – oder verhindern sie eher eine umfassende historische Urteilsbildung?