Brandstiftungen. Gewalträume und Albträume vom Leben im vereinigten Deutschland

Gewalträume/Schutzräume

Exponatentyp
Filmdokumentation, Video
Datum
2000
Dauer
01:33 min

Brandstiftungen. Gewalträume und Albträume vom Leben im vereinigten Deutschland

Gewalträume/Schutzräume

Die ausgewählte Szene stammt aus der Dokumentation „Überleben in Eberswalde“ (2000), die als zweiter Teil einer dokumentarfilmischen Auseinandersetzung mit der Tötung von Amadeu Antonio erschien („Amadeu Antonio“, 1992). Der Angolaner stirbt am 6. Dezember 1990 nach dem Angriff einer Gruppe von Neonazis in der brandenburgischen Stadt Eberswalde; er ist eines der ersten Todesopfer rechter Gewalt nach der Vereinigung. Erst im Kontext des Gerichtsverfahrens zwei Jahre später erfährt der Publizist und Filmemacher Thomas Balzer von dem Ereignis und entscheidet sich, eine Reportage über die Gewalttat zu drehen.

Die ausgewählte Szene zeigt den Besuch des Afrikanischen Kulturvereins Palanca e.V., dessen Räumlichkeiten nach einem Brandanschlag völlig zerstört waren. Balzer verdeutlicht damit, wie gefährdet dieser Schutzraum war und ist. In der ausgewählten Szene führen Angehörige des Vereins durch die ausgebrannten Räume und beschreiben das nicht mehr existente Kulturzentrum.

Allgemeine Informationen

Titel: Überleben in Eberswalde

Medienart: Dokumentarfilm

Regie: Thomas Balzer

Jahr: 2000

Besitzende Einrichtung: ZDF

Gesamtlänge: 35:10 Minuten

Empfohlene Zitierweise: Thomas Balzer: Überleben in Eberswalde. D 2000. Abgerufen unter: https://dut-ausstellung.de/source/brandstiftungen-gewaltraeume-und-albtraeume-vom-leben-im-vereinigten-deutschland/.

Quelle in der digitalen Sammlung der Thulb

Transkript

Off-Sprecherin: „Werk- und Papierverarbeitung sind längst abgewickelt. Fast ein Viertel der Einwohner ist arbeitslos. Auf einem außerhalb der Stadt gelegenen ehemaligen Kasernengelände hat der afrikanische Kulturverein Palanca seit 1994 seine Räume.

Bibliothek, Werkstatt, Clubraum. Bis zum März diesen Jahres. Dann ging die Arbeit von sechs Jahren in Flammen auf. Die Täter? Zwei 23-Jährige aus Eberswalde. Ihr Motiv? Sie wollten Ausländer aus Deutschland vertreiben. […] Der Kulturverein Palanca war für die 20 afrikanischen Familien in Eberswalde die einzige Möglichkeit, sich zu treffen.“

Joaquim Francisco João: „Hier vorne war die Bibliothek. Ja? Kleine Bibliothek. Und Sitze, wo man sitzen kann und bisschen Bücher lesen kann, wenn man Zeit hat. [..] Hier drin war das Büro. Da. Hier drin Computer. [..] Kopierer. [..] Auf der anderen Seite gab es einen Schrank mit Papier. Auf dieser Seite war auch ein anderer Schrank, wo wir so die ganze Bekleidung von der Trommelgruppe und der Kindertanz und so-. [..] Das war die Veranstaltungraum.

[..] Hier gab es die Musikanlage, die Boxen, da die kleine Bar und hier Tische. [..] Und die Fläche zum Tanzen. Naja. Und jetzt ist verbrannt und wir müssen sie wieder neu aufbauen.“

Interpretationsvorschläge

Mittlerweile wird die Phase rechter Gewalt vor und vor allem nach 1989/90 intensiv untersucht. Im kulturellen Gedächtnis und öffentlichen Diskurs ist sie vor allem durch wenige Ortsnamen symbolisiert: Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen. Anders als diese Ortsnamen suggerieren, beschränkte sich die Gewalt aber nicht auf wenige Orte. Ein Charakteristikum rechter Gewalt in der Vereinigungsgesellschaft war gerade ihre räumliche wie zeitliche Entgrenzung, ihre Alltäglichkeit und Omnipräsenz, aber auch ihre Vielgestaltigkeit und Vielschichtigkeit. Angriffe und Anschläge richteten sich gegen verschiedene Gruppen; die Gewalt war rassistisch, antisemitisch, antiziganistisch, antislawisch, sexistisch und homophob; sie traf aber auch politische Gegner:innen. Rechte Gewalt trat im Kontext von Mauerfall und Vereinigung auf, hatte in Ost- wie Westdeutschland eine Vorgeschichte. Sie prägte nicht nur die erste Hälfte der 1990er Jahre, sondern zieht sich bis in die Gegenwart.

Schon rund um den 3. Oktober 1990 hatte es deutschlandweit rechte Gewaltereignisse gegeben; die Vereinigung motivierte eine Welle nationalistischer Ressentiments gegen als nicht-deutsch stigmatisierte Personengruppen. Amadeu Antonio gehörte in Eberswalde zu der rund 100 Personen umfassenden Gruppe angolanischer Werktätiger, die in den späten 1980er Jahren für die Arbeit im nahegelegenen Fleischkombinat angeworben worden waren. Nach 1989/90 blieb kaum ein Dutzend von ihnen in der Stadt; vor allem diejenigen, die vor Ort Familien gegründet hatten. Amadeu Antonio wurde Ende November 1990 von einer Gruppe Skinheads durch Tritte lebensgefährlich verletzt. Am 6. Dezember erlag er im Krankenhaus seinen Verletzungen. Er hinterließ seine schwangere deutsche Freundin.

Sowohl der erste als auch der zweite Dokumentarfilm von Thomas Balzer zeigen eindrücklich, dass rassistische Gewalt im ostdeutschen Umbruch nicht punktuell und vereinzelt erfolgte, sondern das Leben der betroffenen Gruppen dauerhaft prägte. Gefahrenzonen blieben über Jahre hinweg bestehen, Schutzräume waren stets prekär und gefährdet, wurden angegriffen und gelegentlich zerstört. Dafür ist der Afrikanische Kulturverein Palanca e.V. ein gutes Beispiel. Er wurde 1994 als Reaktion auf die Tötung Amadeu Antonios gegründet – einige hätten sich, so steht auf der Internetseite zu lesen, mit der Situation von Angst und Rückzug nicht abfinden wollen: „und so entstand die Idee, einen afrikanischen Verein zu gründen – als Vermittler zwischen den Kulturen“.  Seither dienen die Vereinsräume am Rande der Stadt als Rückzugsort, als Raum des Austausches, der Kulturarbeit, der antirassistischen Vernetzung sowie des migrationspolitischen Engagements; kurzum: als ein safe space. Heute widmet sich der Verein der Asyl- und Migrationspolitik in einem weiteren Sinne. Das Palanca ist aber auch ein wichtiger Akteur mit Blick auf den stadtgesellschaftlichen Umgang mit dem Tod von Amadeu Antonio: ob es um die Umbenennung der Straße geht, auf der Amadeu Antonio getötet wurde, oder um die Gedenkveranstaltungen zu den Jahrestagen.

Die prekäre Lage der betroffenen Gruppen wird unter anderem dadurch deutlich, dass ihre Vereinsräume immer wieder – so auch 2001 – in Brand gesetzt wurden. Die Räume, die sie sich in der ostdeutschen Umbruchsgesellschaft schufen, waren wohl auch gefährdeter als in Westdeutschland, wo migrationspolitisches Engagement spätestens seit den 1980er Jahren zu einer größeren Vernetzung und Etablierung migrantischer Räume geführt hatte. Die ausgebrannten Räume weisen zugleich auf die Bedeutung migrantischer safe spaces; im Bewusstsein der nicht-betroffenen Bevölkerung spielen sie indes kaum eine Rolle. Dass sie entstehen konnten und bis heute existieren, weist schließlich auf das Engagement und den Mut migrantischer Communities – also auf ihre „Agency“ –, auch unter besonders prekären Umständen eigene Räume zu schaffen und zu behaupten.

Weitere Ausstellungskategorien

Träume & Albträume

Quellenkritik

Der Film stellt ein eindrucksvolles Porträt der Stadtgesellschaft dar, zeichnet die unterschiedlichen Wahrnehmungen, Einstellungen und Diskussionen in Eberswalde nach und beeindruckt durch seine multiperspektivische Anlage. Balzer führte Interviews mit verschiedenen Akteur:innen: sowohl mit Angehörigen der betroffenen Gruppe ehemaliger angolanischer „Vertragsarbeiter“, als auch mit Verantwortlichen innerhalb der Stadtverwaltung. Er verzichtete weitgehend auf explizite Einordnungen und Wertungen, schnitt das Material aber kommentierend zusammen. Sein Film zeichnet sich vor allem durch eine konsequente Einbeziehung der Perspektive der von der Gewalt Betroffenen aus. Dies war zeitgenössisch alles andere als selbstverständlich; es dominierte ein Fokus auf und ein Interesse an Täterperspektiven. Demgegenüber kommen in beiden Dokumentationen die ehemaligen angolanischen „Vertragsarbeiter“ zu Wort, die nach dem Ende der DDR entschieden hatten, in Eberswalde zu bleiben.

Dokumentarfilmisches Material ist für die Zeitphase des ostdeutschen Umbruchs bislang wenig systematisch untersucht worden. Es bietet einen Vorzug, über den kaum eine andere Quelle in diesem Maße verfügt: nämlich die Atmosphäre der postsozialistischen Transformation bis in die Details von Gestik und Mimik hinein zu vermitteln. Auch die Räume der Umbruchsgesellschaft können so im Wortsinn ausgeleuchtet werden: die sterilen Räume städtischer Verwaltung ebenso wie die randständigen Räume migrantischen Engagements. In diesem Sinne kann dokumentarfilmisches Material dem Genre der Reportage zugezählt werden und bedarf darum einer eigenen Form der Quellenkritik. Aus welcher Perspektive und in welchen Ausschnitten die Umbruchsgesellschaft porträtiert wird, folgt spezifischen Regieentscheidungen: Schnitte und die Montage des Materials. Was wird nicht gezeigt oder ausgelassen, welche Bilder werden kombiniert, welche Szenen miteinander verbunden? Welche Botschaften resultieren aus diesen Regieentscheidungen? Die quellenkritische Beschäftigung mit dokumentarfilmischem Material kann von den Methoden der Visual History profitieren, bedarf aber darüber hinaus eigenen methodischen Reflexionen, um die Spezifika bewegter Bilder einbeziehen.

Bei der ausgewählten Szene ist besonders auf die von Balzer eingeschnittenen Fotos, aber auch auf die Form der Kommentierung durch Schnittentscheidungen zu achten.

Ausschnitte aus dem ersten Dokumentarfilm Thomas Balzers zur Tötung von Amadeu Antonio finden sich hier:
Hakenkreuze auf dem Boden. Rechte Drohgewalt während der ,Baseballschlägerjahre‘ („Amadeu Antonio“, 1992)