Aktenzeichen: 37 S 328/88
211-91-88
18.10. 88 [handschriftlich]
24.10.88 [handschriftlich]
Urteil
Im Namen des Volkes!
In der Strafsache
266 [Stempel]
- den [geschwärzt]
wh.: [geschwärzt]
PKZ: [geschwärzt]
gegen
- den Ingenieur Manfred Rudolf Walter
wh.: Sondershausen, Hasenholzweg 36
PKZ: 270752 4 1742 9
zu 1 und 2 seit dem 11.8.88 in UHA BVfS Erfurt
wegen
Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit
hat die Strafkammer des Kreisgerichts Erfurt-Mitte
nicht öffentl.
in der Hauptverhandlung am 18. 10. 1988, an der teilgenommen
haben:
Direktor Frau Naumann
als Vorsitzender
Herr [geschwärzt]
Herr [geschwärzt]
als Schöffen,
Staatsanwalt Rudat
als Anklagevertreter,
Rechtsanwalt Dr. [geschwärzt]
als Verteidiger,
Justizprotokollantin [geschwärzt]
als Protokollführer,
für Recht erkannt:
- Die Angeklagten werden wegen zusammen begangener Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit – Vergehen gem. § 214 Abs. 1 und 3 StGB – zu einer
Freiheitsstrafe von je 1 -einem- Jahr und 6 -sechs- Monaten verurteilt.
- Gem. § 56 Abs. 1 StGB werden 2 Briefe des BRD-Bürgers [geschwärzt] an Manfred Walter vom 17.5. und 8.6.88 sowie 2 Erklärungen an den Staatsrat der DDR gerichtet vom 13.5. bzw. 8.7.88, eine Kopie einer an den Ministerrat der DDR gerichteten Erklärung mit Poststempel vom 6.6.88 und eine Erklärung an den Ministerrat der DDR gerichteten vom 27.6.88 jeweils mit beiliegender Adressliste in Briefumschlag eingezogen.
- Die Auslagen des Verfahrens haben die Angeklagten als Gesamtschuldner zu tragen.
G r ü n d e
[geschwärzt]
Der 36jährige nicht vorbestrafte Angeklagte Manfred Walter erlernte nach Schulabschluss der 10. Klasse den Beruf eines Betriebsschlossers, absolvierte anschließend seinen Ehrendienst bei der NVA und nahm danach im Jahr 1972 ein Studium an der Fachhochschule „Otto von Gehricke“ in Magdeburg auf, welches er 1975 als Ingenieur für Maschinenbau erfolgreich abschloss. Am 1.9.75 begann er im VEB Elektroinstallation Sondershausen eine Tätigkeit, die zunächst seiner erworbenen Qualifikation entsprach. Nach Übertragung anderer Arbeitsaufgaben nach Arbeitsvertragsänderung kündigte er im März 1988 dieses Arbeitsrechtsverhältnis und ging seit diesem Zeitraum ebenfalls keiner geregelten Tätigkeit mehr nach.
Der Angeklagte hatte am 31.12.1985 für sich und seine Familie einen Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR und Übersiedlung in die BRD gestellt, weil er für sich und seine Familie in der BRD größere Entfaltungsmöglichkeiten, auch aufgrund seiner vorwiegend religiösen Erziehung, sieht und darüber hinaus mit seinem in der BRD lebenden Bruder familiär enger zusammenleben möchte. Sein Übersiedlungsersuchen wurde am 20.4.1988 abschlägig bearbeitet.
In der Folgezeit nach den jeweils erfolgten ablehnenden Entscheidungen des staatlichen Organs suchten beide Angeklagte im Zusammenwirken mit ihnen bekannten anderen Antragstellern nach Möglichkeiten, die staatlichen Organe doch noch zu einer ihnen genehmen Entscheidung zu bewegen. Breits seit über einem Jahr trafen sie sich in regelmäßigen Abständen in der Gruppe der Antragsteller im Café „Alte Wache“ in Sondershausen, das sich nahe des Gebäudes des Rates des Kreises Sonderhausen befindet. Beide Angeklagte waren sich darüber einig, nach dem jeweils erfolgten ablehnenden Entscheidungen über ihre Übersiedlungsersuchen in ihren auf die Durchsetzung dieser Anträge gerichteten Bestrebungen keinesfalls nachzulassen, sich keinesfalls damit abzufinden. Mit dem Ziel, die staatlichen Organe auf sich als Antragsteller aufmerksam zu machen, gemeinsames Auftreten zu dokumentieren, fanden sich beide Angeklagte von Mai 1988 bis Juli 1988 in einer größeren Gruppe von ca. 10 Personen in mindestens 6 Fällen in dem genannten Café im Freien sitzend zusammen, um durch ihr geschlossenes Auftreten insbesondere die Aufmerksamkeit der Mitarbeiter des Rates des Kreises auf sich zu lenken. Sie trafen sich jeweils dienstags ab 15:30 Uhr, wobei die Anzahl der beteiligten Antragsteller von 6 bis 10 Personen schwankte. Im gleichen Zeitraum richteten sie arbeitsteilig handelnd nach jeweils zuvor erfolgten gemeinsamen Absprachen zum Inhalt der nachfolgend genannten Schreiben am 13.5., 6.6., 27.6. und 8.7.88 jeweils schriftliche Erklärungen an zentrale Staatsorgane (Staatsrat und Ministerrat der DDR), in denen sie auf ihre Problematik als Antragsteller eingingen und insgesamt ultimative Forderungen im Hinblick auf die Durchsetzung ihrer Übersiedlungsbestrebungen stellten und andere Personen durch Sammlung von Unterschriften zur Unterstützung dieser Erklärungen durch Unterschriftsleistungen aufforderten. Auf diesen Gedanken gelangten die Angeklagten, nach einer in Berlin besuchten Veranstaltung, bei der zahlreiche Antragsteller zusammentrafen und den Angeklagten eine ähnlich gelagerte schriftliche Erklärung zur Kenntnis gelangte. Dadurch inspiriert, wollten auch sie durch die von ihnen verfassten vier Erklärungen mit allem Nachdruck die Durchsetzung ihrer Übersiedlungsersuchen bewirken. Beide Angeklagte veranlassten ihnen bekannte Antragsteller zur Unterschriftsleistung, ebenso handelten weitere drei Antragstellerfamilien, die zum engsten Bekanntenkreis der Angeklagten gehören.
Diese Sachverhaltsfeststellungen beruhen auf den geständigen Aussagen der Angeklagten und den aus dem Protokoll der Hauptverhandlung ersichtlichen, durch Vorlage bzw. Verlesen zum Gegenstand der Beweisaufnahme gemachten sachlichen Beweismitteln der Akte.
Danach steht fest, dass sich die beiden Angeklagten arbeitsteilig handelnd und im Zusammenwirken mit anderen Antragstellern der Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit gem. § 214 Abs. 1 und 3 StGB schuldig gemacht haben, indem sie durch gemeinsames Auftreten sowie durch das Verfassen der genannten Erklärungen mit ultimativ provokati[unleserlich]schen Forderungen selbst eine Missachtung der Gesetze bekundeten sowie andere Personen durch Sammlung von Unterschriften zu einer solchen Handlung aufforderten.
In Übereinstimmung mit dem Antrag des Staatsanwaltes erkennt die Strafkammer auf einer Freiheitstrafe von jeweils 1 Jahr und 6 Monaten. Bei der Strafzumessung werden insbesondere die erhebliche Intensität ihre Handelns sowie die Auswirkungen der Straftat berücksichtigt. Ihr Vergehen ist unter Beachtung der Umstände der Tat, des Zusammenwirkens und der nicht unerheblichen Auswirkungen auf die öffentliche Ordnung als erheblich gesellschaftswidrig zu beurteilen und erfordert die mit der erkannten Freiheitsstrafe ausgedrückten nachhaltigen Disziplinierung. Die erkannte Massnahmen strafrechtlicher Verantwortlichkeit hatte dem Schutz der staatlichen Ordnung vor derartigen Angriffen Rechnung zu tragen. Insofern konnte dem von der Verteidigung gestellten Antrag, auf eine Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 3 Monaten zu erkennen, nicht gefolgt werden.
Gem. § 56 Abs. 1 StGB waren die im Tenor näher bezeichneten, zur Straftat benutzten Schriftstücke bzw. im engen Zusammenhang damit stehenden Briefe einzuziehen. Die Auslagenentscheidung beruht auf §§ 364 und 365 StPo.
Neumann [handschriftlich]
[geschwärzt]
[geschwärzt]