Schreibaufruf: Ihre Bildungsgeschichte!
Meine Bildungsbiographie
Meine erste Erinnerung, als ich die E-Mail mit dem Schreibaufruf bekam, war die an die Russischolympiaden in der Schule bzw. im Kreis. Im ersten Jahr war ich Schulmeisterin bei der Olympiade. Da wurde mir erklärt, dass in diesem Jahr nur die Zweitplatzierten eine Delegierung zur Kreismeisterschaft erhalten würden. Im darauffolgenden Jahr war ich auf dem 2. Platz. Und just in diesem Jahr wurde nur der Erste zur Kreisolympiade delegiert. Das habe ich gar nicht hinterfragt.
Weitere Erinnerungen betreffen die Bemühungen zur weiteren Schulbildung an der Erweiterten Oberschule. Meine Eltern hielten eine gute Bildung für sehr wichtig, so dass ich auch von klein auf in diese Haltung hineingewachsen bin. Aber ich fühlte mich in meinem Klassenverband der 8. Klasse so wohl, dass ich mich zunächst gegen den Gedanken an eine andere Schule sträubte. Aus meinem damaligen Jahrgang war ich dann wegen meiner guten schulischen Leistungen die Einzige, die sich für die EOS bewarb. Ich weiß allerdings nicht mehr, ob es eine Art Bewerbungsverfahren oder ähnliches dafür gab. Jedenfalls wurde ich erst einmal abgelehnt.
Mein Vater als französisch-reformierter Pfarrer setzte sich zusammen mit dem Kirchenkreis im Gespräch mit dem Rat des Kreises dafür ein, dass ich dann doch zur EOS angenommen wurde. In der 9. Klasse wurde in einer Parteiversammlung darüber diskutiert, ob ein Pfarrerskind überhaupt an einer weiterführenden sozialistischen Schule lernen sollte. Das habe ich über Klassenkameraden erfahren, deren Eltern in der SED und bei der Versammlung dabei waren. Da ich in der Schule das einzige Kind eines Pfarrer war, konnte es nur um mich gehen. Die Lehrerin, die dieser Meinung war, hat mit ihrer Benotung im Fach Biologie der höheren Klassenstufen dazu beigetragen, dass mein Studienwunsch der Medizin in noch weitere Ferne rutschte.
Das war aber auch die einzige konkret zu benennende Benachteiligung, die ich erfuhr. Ich bin nie auf Konfrontation mit dem Staat aus gewesen, d.h. ich war Mitglied bei den Pionieren und der FDJ. Nur die Jugendweihe habe ich nicht mitgemacht. Mir fehlten einfach der Mut und der Rückhalt aus dem Elternhaus, um mich politisch gegen den Staat zu engagieren.
In Vorbereitung auf den Wunsch, Medizin studieren zu wollen, mussten aus meiner Erinnerung ab der 10. Klasse (oder Klasse 11?) alle Schüler, die diesen Wunsch hatten, regelmäßig mit ihren Eltern zum Gespräch mit der Schuldirektorin. Das Ziel war eindeutig: Wir sollten auf einen anderen Studienwunsch umgelenkt werden. Die Jungen sollten sich zusätzlich für mindestens 3 Jahre zum Dienst bei der NVA verpflichten, um ihre Chance auf ein Medizinstudium zu erhöhen.
Nach den Bewerbungen für einen Studienplatz bekam ich als Einzige eine Ablehnung für das Medizinstudium. Alle 5 Jungen des Jahrgangs (4 davon waren immer bei den Gesprächen mit dabei) wurden angenommen. Sie hatten sich alle für 3 beziehungsweise 4 Jahre zur Armee verpflichtet. Der, der sich ohne diese Gespräche bei der Direktorin auf das Medizinstudium beworben hatte, hatte sich „spontan“ anders entschieden. Er war während der gesamten Schulzeit ein begabter und geförderter Musiker, der eigentlich Violine studieren wollte.
Diese Ablehnung, auch als einziges Mädchen, tut mir bis heute noch weh. Aber mit meinem Vater hatte ich ausgemacht, dass er sich nicht noch einmal in meine „Bildungsbiographie“ von Amts wegen einmischen sollte. Ich dachte, meine Leistungen wären zu schlecht gewesen. Dann versuchte ich zunächst an verschiedenen Fachschulen eine Ausbildung zur Krankenschwester und auch an der Fachschule für Bibliothekswesen in Leipzig eine Bewerbung zu platzieren, was gleich am Telefon nur Ablehnungen zu Folge hatte.
Ich hing wochenlang „in der Luft“, bis ich zum Vortrag über die Hochschule „Carl Friedrich Schorlemmer“ Merseburg in unsere Schule eingeladen wurde mit dem Hinweis der Direktorin, dass es sich um eine verpflichtende Teilnahme für „Abgelehnte“ handele. Im Ergebnis hatte ich dann eine Zusage für ein Studium an der TH Merseburg für chemische Verfahrenstechnik in der Tasche. Bis dahin hatte ich mich gar nicht für Technik interessiert. Die Entscheidung fiel nicht für die Verfahrenstechnik, sondern mehr gegen das Studium der sozialistischen Betriebswirtschaft, was die Alternative gewesen wäre.
Während des Studiums lernte ich dann meinen Mann kennen. Dieser half mir mit seinem technischen Interesse und praktischen Fähigkeiten im Studium, während mir meine grundlegenden theoretischen Kenntnisse in Mathematik und Physik halfen. Ich habe nach der Wiedervereinigung mein Studium mit dem Prädikat „gut“ abgeschlossen. Da gerade zeitgleich das Ende der DDR war, kann ich in Bezug auf meine Person keinen Vergleich zwischen den Möglichkeiten und Grenzen der Bildungswege ziehen.
Ich habe irgendwann meinen Frieden mit dem verbogenen Weg gemacht. Mein Bildungsniveau mit den Möglichkeiten nach der Wiedervereinigung habe ich versucht, bei meinen Kindern umzusetzen. Alle drei haben wir immer durch Fordern gefördert. Im Vergleich der Bildungssysteme der DDR und der BRD komme ich zu der Erkenntnis, dass ein zentraler Bildungsweg der deutlich effektivere und bessere ist. Die naturwissenschaftlichen Grundlagenfächer wurden meiner Meinung nach in der DDR deutlich besser gelehrt.
In der heutigen BRD werden aus meiner Sicht zu wenige Grundlagen gelegt und zu sehr separiert. Begabte Kinder können ab einer gemeinsamen Stufe der Allgemeinbildung im Nachhinein gefördert werden; auch als Ergänzung zum regulären Unterricht könnte diese Förderung erfolgen. Aus diesen Worten können Sie erkennen, dass mir bis heute Bildung und Weiterbildung sehr wichtig sind. In meiner beruflichen Laufbahn versuche ich bis heute, alle mir sich bietenden Möglichkeiten zur Weiterbildung zu nutzen.
27. Oktober 2020