Chilenische Exilanten: Zwischen Tabu, Angst und Ankunft

Gewalträume/Schutzräume

Exponatentyp
Filmdokumentation, Video
Datum
1985
Dauer
03:51 min

Chilenische Exilanten: Zwischen Tabu, Angst und Ankunft

Gewalträume/Schutzräume

Die Redakteurin Jutta Soto produziert den Film „Exil“ 1985 für die Staatliche Filmdokumentation (SFD). Wie alle Filme dieser Gruppe ist auch „Exil“ nicht für die öffentliche Vorführung in der DDR gedacht. Er soll lediglich als Dokument für zukünftige Generationen archiviert werden. Die Filmemacher können deshalb auch heikle Themen behandeln. Der Film zeigt den chilenischen Exilanten Emilio F. Er lebt seit 1974 in der DDR. Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten ist er 35 Jahre alt und berichtet vor dem Eingang der Humboldt-Universität Berlin über seine Erfahrungen in der DDR. Er schildert seine Schwierigkeiten als Exilant: So weigerte er sich, nach seinem Studienabschluss nach Jena zurückzukehren. Deshalb blieb er zwei Jahre ohne Arbeit und Wohnung.

Min. 00:00: „Tabus“ und „Angst“ in der fremden Gesellschaft
Min. 01:24: „Eine sehr große Krise“
Min. 02:39: Probleme „politischer Natur“

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Allgemeine Informationen

Titel: Exil

Medienart: Dokumentarfilm

Regie: Jutta Soto

Jahr: 1985

Gesamtlänge: 71 Minuten

Besitzende Einrichtung: Bundesarchiv-Filmarchiv

Empfohlene Zitierweise: Jutta Soto: Exil. DDR 1985. Bundesarchiv-Filmarchiv, Filmwerk ID: 44489, Signatur: 33288. Abgerufen unter: https://dut-ausstellung.de/source/chilenische-exilanten-zwischen-tabu-angst-und-ankunft/.

Quelle in der digitalen Sammlung der Thulb

Gesamter Film zur Ansicht im Digitalen Lesesaal des Bundesarchivs: https://digitaler-lesesaal.bundesarchiv.de/video/44489

Transkript

„Tabus“ und „Angst“ in der fremden Gesellschaft (Min. 00:00)

Emilio F.: „Das andere Problem war, dass wir nicht nur in einem fremden Land waren, sondern auch in einer fremden Gesellschaft. Eine Gesellschaft mit einer ganz [anderen] ökonomischen und politischen Struktur. Und wir wussten eigentlich nicht genau, wie wir uns da zu verhalten haben. Von unserer Seite waren [da] auch eine ganze Menge von Tabus gegenüber der DDR. Und wir haben uns, oder am Ende stimmt, ich habe mich nicht getraut, manchmal laut zu sagen, was ich eigentlich gedacht habe, weil irgendwie hatte ich Angst… Aber das waren die ersten Monate. In Leipzig haben wir, sagen wir, ein Studentenleben geführt, haben wir die Sprache gelernt, dann kam ich hier nach Berlin.

Und eigentlich in Berlin haben schon angefangen die eigentlichen Probleme des Exils. Da war das Studium. Das war unsere Aufgabe. Aber wegen dieser ganzen Situation, vor allem für mich, war das Studium sehr schwer. Ich meine nicht, weil das Studium an sich schwer war, sondern, weil irgendwie uns das Studium …, ich war nicht ganz zufrieden, was mir dieses Studium anbot.“

„Eine sehr große Krise“ (Min. 01:24)

„Und die andere Seite: Ich war auch in eine sehr große Krise geraten. Und das aus der Exil-Situation heraus, weil: Ich war sehr allein, ich war nur auf mich angewiesen, und die Möglichkeiten der Kommunikation mit der äußeren Welt waren sehr gering. Demzufolge, die einzige Möglichkeit, die ich hatte, war praktisch [mich] in mich selbst einzuschließen und, sagen wir, zu versuchen nach innen zu leben. Für die äußere Welt war ich irgendwie nicht da, sie existierte nicht, ich existierte eigentlich nur für mich. Diese Jahre, wenn ich heute also in die Vergangenheit zurückblicke: Es waren sehr traurige Jahre, mit sehr vielen Problemen, mit sehr viel Angst. [Das war die] eine Seite. Aber die andere Seite, es waren auch sehr reiche Jahre. In dem Zusammenhang meine ich, dass ich mehr oder weniger die Möglichkeit hatte, zu mir selbst ein bisschen näher zu kommen.

Probleme „politischer Natur“ (Min. 02:39)

„Ich muss auch sagen, dass ich in dem Studium der Ökonomie auch sehr viele Probleme hatte, nicht nur wegen dieser Situation, nicht nur, weil ich mich allein fühlte. Auch hatte ich Probleme, sagen wir, mehr oder weniger politischer Natur. Als ich mit dem Studium fertig war, sollte ich nach Jena zurückkehren. Aber ich hatte schon hier in Berlin fünf oder sechs Jahre gelebt. Ich hatte alle meine Freunde, meine Bekannten hier, ich hatte meinen Kreis, und ich wollte nicht nach Jena. Und ich habe mich dagegen gewehrt. Die Folge davon war, dass ich von den offiziellen Organen der DDR ganz losgelöst wurde. Und das hat für mich bedeutet, dass ich zwei Jahre ohne Arbeit war, ohne Wohnung. Ich hatte alle meine Sachen bei Freunden. Meine Bücher hatte ich bei drei verschiedenen Wohnungen. Zwei Jahre [lang] hatte ich die Bücher verpackt, also habe ich die Bücher nicht mehr gesehen. In dieser Zeit habe ich auch meine Frau kennengelernt.“

Interpretationsvorschläge

Am 11. September 1973 kam es in Chile zu einem Militärputsch gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Es begann die grausame Militärdiktatur Augusto Pinochets, die erst im Frühjahr 1990 endete. Vor der Verfolgung flohen über eine Million Menschen ins Ausland. Auch Deutschland nahm tausende Chilen:innen auf. In der Bundesrepublik fanden etwa 4.000 Exilant:innen Zuflucht, in der DDR etwa 2.000. Eine Studie zum „Zufluchtsort DDR“ zeigt, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Exil-Leben der Chilen:innen einen wichtigen Beitrag zur Alltags- und Gesellschaftsgeschichte der DDR leistet: Die chilenischen Exilant:innen waren mit ihren großen Freiräumen und ihrem Pass, der das Hin- und Herreisen zwischen Ost und West erlaubte, DDR-Zeitzeug:innen „besonderer Qualität“ (Sebastian Koch). Die Spiel- und Dokumentarfilme, die in der DDR zum Thema „Chile“ entstanden, sind hierfür eine wichtige Quelle: Zeitgleich zu Jutta Sotos „Exil“ entstand zum Beispiel auch der bekannte DEFA-Spielfilm „Blonder Tango“ (Lothar Warneke, 1985) nach einem Roman des chilenischen Schriftstellers Omar Saavedra Santis oder der DEFA-Dokumentarfilm „Chile – Tausend Tränen, Tausend Träume weit“ (Ernst Cantzler, 1986).

Im Chile-Film „Exil“ der Staatlichen Filmdokumentation sind fünf chilenische Emigranten im Jahr 1985 in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz), Potsdam und Berlin zu sehen und zu hören. Sie fühlen sich in der DDR unterschiedlich gut aufgenommen. Einer von ihnen ist Emilio F., 35 Jahre alt. Er lebt seit 1974 in der DDR. Im Filmausschnitt sitzt er vor dem Eingang der Humboldt-Universität in Berlin. Ruhig schildert er seine Exil-Erfahrungen und seine Probleme „mehr oder weniger politischer Natur“: die „dumme Arbeit“ der ersten Exil-Monate beim VEB Carl Zeiss Jena, den nachwirkenden Schock der „politischen und militärischen Niederlage“ in Chile, die Perspektivlosigkeit, die „Tabus“ in der DDR und seine „Angst“, Gedanken in der Öffentlichkeit laut auszusprechen, die Enttäuschung über die Inhalte des Ökonomie-Studiums und schließlich den Bruch mit den DDR-Behörden. Als Emilio F. sich weigert, nach dem Studium zurück nach Jena zu gehen, werden ihm der Anspruch auf Wohnung und Arbeit entzogen. Zwei Jahre lang lebt er arbeits- und wohnungslos in der DDR. „Exil“ vermittelt die Alltagserfahrungen eines Chilenen, der sich von der DDR-Gesellschaft isoliert und ausgeschlossen fühlt. Seine Schilderungen stellen die Glaubwürdigkeit der Pathosformeln von „internationaler Solidarität“ und „Völkerfreundschaft“ in Frage. Stattdessen bietet der Film eine komplexe Reflexion der Exil-Situation sowie eine Außensicht auf die DDR-Gesellschaft der 1970er und 1980er Jahre.

Weitere Ausstellungskategorien

Träume & Albträume Wohnen

Quellenkritik

Der besondere Quellenwert von „Exil“ besteht darin, dass er nicht für eine Vorführung in DDR-Kinos oder im DDR-Fernsehen hergestellt wurde, sondern als Filmdokument für das Staatliche Filmarchiv der DDR. Wie alle anderen Filme aus der Staatlichen Filmdokumentation sollte auch „Exil“ der Selbstdokumentation von Staat und Gesellschaft der DDR für die Zukunft dienen. Dabei sollten auch solche Themen dokumentiert werden dürfen, die anderen DDR-Filmen nicht erlaubt waren.

Eine „Konzeption“ zum Filmvorhaben aus dem Jahr 1982/83 belegt, dass die SFD-Filmemacher:innen dafür zunächst im Archiv des DDR-Fernsehens zum Thema „internationale Solidarität“ recherchierten. Sie stellten fest, dass in Filmen zwar offizielle Veranstaltungen wie die Übergabe von Solidaritätsgütern oder Solidaritätsbasare oft gezeigt wurden. Die konkrete Darstellung derjenigen, die Hilfe und Solidarität empfingen, fehlte dagegen. Dieser Lücke wendet sich Jutta Soto im SFD-Film „Exil“ zu. Der Film hält für zukünftige Filmemacher:innen und Wissenschaftler:innen nicht nur die Wahrnehmung der chilenischen Exilant:innenen durch DDR-Behörden und DDR-Filmemacher:innen fest, sondern vor allem auch die eigene Perspektive der Chilen:innen auf ihre Situation in der DDR.