Hakenkreuze auf dem Boden. Rechte Drohgewalt während der ,Baseballschlägerjahre'

Gewalträume/Schutzräume

Exponatentyp
Filmdokumentation, Video
Datum
1992
Dauer
01:51 min

Hakenkreuze auf dem Boden. Rechte Drohgewalt während der ,Baseballschlägerjahre'

Gewalträume/Schutzräume

Die ausgewählte Szene stammt aus der Dokumentation Amadeu Antonio (1992), die der Regisseur Thomas Balzer einige Zeit nach der Tötung von Amadeu Antonio im November 1990 in der Brandenburgischen Stadt Eberswalde dreht. Der Angolaner stirbt am 6. Dezember 1990 nach dem Angriff einer Gruppe von Neonazis; er ist eines der ersten Todesopfer rechter Gewalt nach der Vereinigung. Erst im Kontext des Gerichtsverfahrens zwei Jahre später erfährt der Publizist und Filmemacher Thomas Balzer von dem Ereignis und entscheidet sich, eine Reportage über die Gewalttat zu drehen.

In der Sequenz aus dem Film wird die Atmosphäre in einem Neubauviertel in Eberswalde eingefangen, wo rechte Drohzeichen und Slogans neben spielenden Kindern ganz selbstverständlich sind. Im zweiten Teil kommt die Freundin von Amadeu Antonio zu Wort – aus Gründen des Schutzes wird sie nur von hinten gezeigt. Sie hat mit ihm zusammen einen Sohn; hier erzählt sie von der gemeinsamen Zeit und von der Angst um ihren Partner.

Min. 00:50: Die Freundin Amadeu Antonios erzählt

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Allgemeine Informationen

Titel: Amadeu Antonio

Medienart: Dokumentarfilm

Regie: Thomas Balzer

Jahr: 1992

Gesamtlänge: 52 Minuten

Besitzende Einrichtung: ZDF

Empfohlene Zitierweise: Thomas Balzer: Amadeu Antonio. D 1992. Abgerufen unter: https://dut-ausstellung.de/source/dokumentarfilm-ausschnitte-amadeu-antonio-1992/.

Quelle in der digitalen Sammlung der Thulb

Transkript

Sprecherin: „Ich musste immer vorlaufen und er kam eine Stunde zwischen-. [..] Oder ich musste nach Hause mit dem Bus fahren und er ist gelaufen. Da waren wir getrennt.

Zusammen sind wir nie gelaufen. [..] Ich hab mal gesagt, warum laufen wir mal getrennt? [..] Dann hat er gesagt, wenn ich mal alleine auf der Straße bin, und Eberswalde ist nicht groß, und da sind ja auch wenige Frauen, die mit Schwarzen zusammen sind, die kennen ja nur schon Frauen, weil sie wissen, wo der Wohnheim ist, von den Schwarzen.

[..] Und die merken sich vielleicht, er hat gesagt, vielleicht passiert irgendwie mal was. [..] Und das wollte er nicht und dadurch sind wir mal getrennt gelaufen. [..] Ich war mit meiner Freundin, die gerade rüber gewohnt hat, mit ihren Schwarzen.

[..] Er ist auch bloß immer nur alleine gelaufen und wir haben mit Amadeo mit dem Auto gefahren. [..] Und Pedro hatte ein Auto und wir waren beide alleine und dann, und die beide auch für sich alleine. [..] Oder ich bin zu ihm zum Wohnheim gegangen, wo er noch im Wohnheim damals gewohnt hat.

[..] Da hat er mich zwar zum Bus gebracht, weißt du, aber da sind wir auch auf der Straße gegangen, aber da war es dunkel gewesen. [..] Am Tage so nicht. [..] Da sind wir immer getrennt gefahren.“

Interpretationsvorschläge

Mittlerweile wird die Phase rechter Gewalt vor und vor allem nach 1989/90 intensiv untersucht. Im kulturellen Gedächtnis und öffentlichen Diskurs ist sie vor allem durch wenige Ortsnamen symbolisiert: Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen. Anders als diese Namen suggerieren, beschränkte sich die Gewalt aber nicht auf wenige Orte. Ein Charakteristikum rechter Gewalt in der Vereinigungsgesellschaft war gerade ihre räumliche wie zeitliche Entgrenzung, ihre Alltäglichkeit und Omnipräsenz, aber auch ihre Vielgestaltigkeit und Vielschichtigkeit. Angriffe und Anschläge richteten sich gegen verschiedene Gruppen; die Gewalt war rassistisch, antisemitisch, antiziganistisch, antislawisch, sexistisch und homophob; sie traf aber auch politische Gegner:innen. Rechte Gewalt trat im Kontext von Mauerfall und Vereinigung auf, hatte in Ost- wie Westdeutschland eine Vorgeschichte. Sie prägte nicht nur die erste Hälfte der 1990er Jahre, sondern zieht sich bis in die Gegenwart.

Schon rund um den 3. Oktober 1990 hatte es deutschlandweit rechte Gewaltereignisse gegeben; die Vereinigung motivierte eine Welle nationalistischer Ressentiments gegen als nicht-deutsch stigmatisierte Personengruppen. Amadeu Antonio gehörte in Eberswalde zu der rund 100 Personen umfassenden Gruppe angolanischer Werktätiger, die in den späten 1980er Jahren für die Arbeit im nahegelegenen Fleischkombinat angeworben worden waren. Nach 1989/90 blieb kaum ein Dutzend von ihnen in der Stadt; vor allem diejenigen, die vor Ort Familien gegründet hatten. Amadeu Antonio wurde Ende November 1990 von einer Gruppe Skinheads durch Tritte lebensgefährlich verletzt. Am 6. Dezember erlag er im Krankenhaus seinen Verletzungen. Er hinterließ seine schwangere deutsche Freundin.

In seinem ersten Dokumentarfilm über die Tötung Amadeu Antonios gelingt Thomas Balzer ein eindrückliches Porträt von der Stadtgesellschaft nach dem Verbrechen. Kameraführung und Schnitttechnik, Musik und O-Ton des Interviews stellen eine Atmosphäre alltäglicher Angst her. Das Gefühl einer untergründigen Bedrohung entsteht aus der Spannung von kindlichem Alltag und stets möglicher Gewalt. Die Drohungen – rechte Zeichen auf dem Boden, rechte Parolen an den Wänden – sind längst normalisiert. Dort, wo Kinder spielen, ist die selbst oft noch sehr junge rechte Szene präsent, auch wenn sie nicht anwesend und zu sehen ist. Dieser Eindruck eines Einbruchs der Gewalt in die Kindheit, die ja sorglos sein sollte, wird durch die Kameraführung verstärkt, die die Szenen fast durchgängig von unten aufnimmt.

Balzer kritisiert hier mit filmischen Mitteln die Atmosphäre der Angst in den ,Baseballschlägerjahren‘, in denen jugendliche Skinheadgruppen zum Alltag gehörten. Zugleich macht die Trennung von Tonspur und Bild im zweiten Teil der Filmsequenz deutlich, dass die nicht von Rassismus betroffenen deutschen Familien zwang- und sorglos ihre Freizeit verbringen, während für die Freundin von Amadeu Antonio mit ihrem kleinen Sohn – der immer wieder rassistisch diskriminiert wird (Rechte hatten sogar Hakenkreuze auf dem Kinderwagen hinterlassen) – der Alltag ein Spießrutenlauf ist. Im Interview berichtet Amadeu Antonios Freundin zudem, dass sie sich als Paar nicht gemeinsam auf die Straße trauten aus Angst, ihr oder ihm würde etwas geschehen. Sie waren zwar in der Liebesbeziehung vereint, aber wurden im Alltag durch die Angst vor Angriffen getrennt. Sie mussten sich aus Vorsicht stets allein im Stadtraum bewegen. Betroffene, die in dieser Zeit in Ostdeutschland lebten, berichten sehr häufig von solchen Vorsichtsmaßnahmen, die sie trafen, sobald sie sich in der Öffentlichkeit aufhielten.

Weitere Ausstellungskategorien

Träume & Albträume

Quellenkritik

Dokumentarfilmisches Material ist für die Zeitphase des ostdeutschen Umbruchs bislang wenig systematisch untersucht worden. Es bietet einen Vorzug, über den kaum eine andere Quelle in diesem Maße verfügt: nämlich die Atmosphäre der postsozialistischen Transformation bis in die Details von Gestik und Mimik hinein zu vermitteln. Auch die Räume der Umbruchsgesellschaft können so im Wortsinn ausgeleuchtet werden: die sterilen Räume städtischer Verwaltung ebenso wie die randständigen Räume migrantischen Engagements. In diesem Sinne kann dokumentarfilmisches Material dem Genre der Reportage zugezählt werden und bedarf darum einer eigenen Form der Quellenkritik. Aus welcher Perspektive und in welchen Ausschnitten die Umbruchsgesellschaft porträtiert wird, folgt spezifischen Regieentscheidungen: Schnitte und die Montage des Materials. Was wird nicht gezeigt oder ausgelassen, welche Bilder werden kombiniert, welche Szenen miteinander verbunden? Welche Botschaften resultieren aus diesen Regieentscheidungen? Die quellenkritische Beschäftigung mit dokumentarfilmischem Material kann von den Methoden der Visual History profitieren, bedarf aber darüber hinaus eigenen methodischen Reflexionen, um die Spezifika bewegter Bilder einbeziehen.

In der ausgewählten Szene ist insbesondere auf die starke filmkünstlerische Bearbeitung zu achten. Obwohl es sich um einen Dokumentarfilm handelt, hat Balzer zahlreiche filmkünstlerische Mittel eingesetzt, um den Zuschauenden die gefühlte Atmosphäre in der Stadt, die – je nach Perspektive – zwischen Angst und Alltag schwankt, zu vermitteln. Diese Mittel werden subtil, aber sehr wirksam, weil in einer sehr verdichteten Form, eingesetzt. Künstlerisch am stärksten fallen die eingeschnittenen Schwarz-Weiß-Bilder auf, die als Rückblende auf das Gewaltereignis interpretiert werden könnten, das in der Gegenwart immer wieder als eine Erinnerung hochkommt, also den Alltag auf im Wortsinn einschneidende Weise stört.

Ausschnitte aus dem zweiten Dokumentarfilm Thomas Balzers zur Tötung von Amadeu Antonio finden sich hier:
Brandstiftungen. Gewalträume und Albträume vom Leben im vereinigten Deutschland („Überleben in Eberswalde“, 2000)