„Ghettoviertel“: Ist Wohnen politisch?

Wohnen

Exponatentyp
Filmdokumentation, Video
Datum
1992/2000
Dauer
12:43 min

„Ghettoviertel“: Ist Wohnen politisch?

Wohnen

Thomas Heise (1955–2024) ist einer der bekanntesten Dokumentarfilmer der DDR. Wegen staatlicher Zensur kann er bis 1989 nur zwei Filme für die Staatliche Filmdokumentation (SFD) drehen. Seine drei Filme über Halle-Neustadt porträtieren rechtsextreme Jugendliche und deren Umfeld: „Stau – Jetzt geht’s los“ (1992), „Neustadt (Stau – der Stand der Dinge)“ (2000) und „Kinder. Wie die Zeit vergeht“ (2007). Besonders „Stau“ sorgt für Kontroversen: Boykottaufrufe, Proteste und sogar Anschläge begleiten die Vorführungen. Heise wird vorgeworfen, er zeige zu viel Nähe zu den Neonazis, es fehle an kritischer Distanz. Auch seine Themenwahl wird kritisiert: Warum Täter statt Opfer zeigen? Heise verweist auf den Auftrag der Ausländerbeauftragten von Halle. Sie hat explizit einen Film über Rechtsradikale bestellt. Ein Kritiker verteidigt den Film mit den Worten: „Kenne deine Gegner.“

Min. 00:00: Konrad und Mutter R. (aus „Stau – Jetzt geht’s los“, 1992)
Min. 05:08: Roland M. (aus „Stau – Jetzt geht’s los“, 1992)
Min. 06:31: Konrad R. und Freundin am Kyffhäuser (aus „Stau – Jetzt geht’s los“, 1992)
Min. 09:03: „Kameradschaftsabend“, Lied vom „großen Glück“, Jeannette G. (aus „Neustadt [Stau – der Stand der Dinge]“, 2000)

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Allgemeine Informationen

Titel: Stau – Jetzt geht’s los / Neustadt (Stau – der Stand der Dinge)

Medienart: Dokumentarfilme

Regie: Thomas Heise

Jahr: 1992 / 2000

Gesamtlänge: 82 Minuten / 90 Minuten

Besitzende Einrichtung: öFilm Dörr & Schlösser GmbH

Empfohlene Zitierweise: Thomas Heise: Stau – Jetzt geht’s los. D 1992. Abgerufen unter: https://dut-ausstellung.de/source/ghettoviertel-ist-wohnen-politisch/.

Sowie: Thomas Heise: Neustadt (Stau – der Stand der Dinge). D 2000. Abgerufen unter: https://dut-ausstellung.de/source/ghettoviertel-ist-wohnen-politisch/.

Quelle in der digitalen Sammlung der Thulb

Transkript

Konrad und Mutter R. (aus „Stau – Jetzt geht’s los“, 1992) (Min. 00:00)

Mutter R.: „Ich war erstmal während der Wende maßlos enttäuscht von meinem ganzen Leben. Ich hatte alles gegeben für die ehemalige DDR und hatte immer viel meinen Kindern vorgelebt, dass man eben nicht nur die tägliche Arbeit machen soll, sondern auch eben alles für die Idee, damit der Sozialismus in Gang kommt, geben soll. Und das habe ich auch getan, indem ich im Wohngebiet immer Arbeiten verrichtet habe, die gemeinnützlich waren, Säuberungsarbeiten oder irgendetwas. Und so sind wir dann nach vielen kleinen Altbauwohnungen in Halle, bin ich dann mit meinem Sohn Konrad, das ist mein letztes Kind, in die Silberhöhe gekommen und dort, eben auch in ein Gebiet, wo eben die Menschen auch nicht viel taten, ich bin dann abends runtergegangen, habe die Sandkisten noch durchgeharkt, um das Schöne zu erhalten, was neu gebaut wurde in der Silberhöhe. Naja, dann kam die Wende, der Junge zog los mit dem Rucksack nach Berlin, holte sich stapelweise Milka-Schokolade. Da kamen mir die ersten Tränen, als er zurückkam. Und da habe ich gedacht, dein Sohn hat doch eigentlich nicht nur die Milka-Schokolade immer vermisst, sondern vielleicht auch noch anderes, schönes Leben, habe ich immer gedacht. Vielleicht ist das Leben ganz anders dort drüben, besser für unsere Kinder. Ich wollte eigentlich immer für meinen Jungen das Beste. Und dann habe ich gedacht, es muss anders gehen, du musst deinem Jungen irgendwie ein besseres Leben… Das, was du auf finanzieller Basis aufbauen kannst… Es kann nicht aus ideeller Basis… Alles hat gescheitert auf ideeller Basis. Du hast alles gegeben, also jetzt musst du direkt auf Finanzen umschalten. Du musst alles, was du noch kannst, welche Kraft du noch hast, die musst du zusammennehmen und musst für deinen Sohn eine gute finanzielle Basis schaffen. Ja gut, es war auch ne Verlockung rüberzugehen, aber in erster Linie bin ich doch gegangen, um für meinen Sohn was Sicheres zu schaffen. Und das habe ich mit ihm abgesprochen. Ich habe ihm gesagt, verhalte dich ruhig in der Wohnung, lass keinen rein, und ich hole dich nach, und das klappt alles. Naja, ich bin dann dort geblieben. Und bin dann aber immer, wenn Ferien waren, gefahren zu Konrad und habe mich hier um den Jungen gekümmert, habe mit ihm diskutiert und habe geholfen, wo ich konnte. Er kam doch nicht so richtig mit der Wirtschaft klar, muss ja noch viel lernen. Er muss eben immer an die Hand genommen werden bis auf den heutigen Tag. … Ja, was ist er für ein Junge? Er war eigentlich mit Leib und Seele beim Bäcker, er hat immer viel geguckt und hat gerne gerührt und gekocht früher. Und das wäre eigentlich ein guter Beruf für ihn gewesen, aber es hat nicht geklappt.“

Konrad R.: „Jetzt stellen wir die Marmorierung bei dem Marmorkuchen her, indem wir die dunkle Teigschicht leicht durch spiralförmiges Drehen der Gabel rundrum eben die Marmorierung herstellen. … Der Ofen muss vorgeheizt werden auf die Temperatur, wo er gebacken ist, damit die Temperatur immer konstant bleibt und damit man genau weiß, wann er ungefähr gar ist. Und wenn der jetzt zu niedrige Temperatur hat und die Temperaturen unterschiedlich, da kann er außen verbrennen oder innen noch matschig sein oder zusammenfallen oder so. Und deshalb ist es wichtig, dass die Temperatur gleichmäßig ist und deshalb muss man den Ofen vorheizen. So, ich pack den jetzt rein, ja?“

Mutter R.: „Dann müssen wir weitersehen. Ich möchte meine Arbeit drüben behalten. Ich möchte ihm aber auch helfen. Ich werde ihm auch immer weiter helfen. Aber der möchte das jetzt alleine meistern, sein Leben. Und er möchte es alleine besser machen. Ja, aber wie? Der Weg ist ihm nicht klar. … Ich habe keine Angst. Ich habe auch vor diesen ganzen Jugendlichen keine Angst. Aber ich möchte irgendwie, dass das … dass das nicht so radikal ist oder dass das …“

Roland M. (aus „Stau – Jetzt geht’s los“, 1992) (Min. 05:08)

[Liedtext Neonazis. Letzte Gesangszeile vor Schnitt: „Wir kämpfen für Zusammenhalt, wenn’s sein muss auch mit Gewalt.“]

Roland M.: „Nun muss ich sagen, irgendwie fühl‘ ich mich jetzt alleingelassen. Früher war das System auch so, hattest du Probleme und wurdest damit nicht mehr fertig, konntest du eben zu jemand hingehen, nochmal zu deinem Lehrer oder zu deinem, was weiß ich jetzt, FDJ-Sekretär. War ja auch nicht schlecht, diese FDJ. Ja, da sind sie halt hingegangen und haben gesagt: ,So, hier, ich werd‘ nicht fertig damit. Kannst du mir da nicht irgendwie behilflich sein? Können Sie mir da nicht sagen, was ich noch machen soll?‘ Und wenn’s halt überhaupt nicht mehr ging, dass überhaupt nichts mehr war, dann wurde halt irgendwie eine höhere Stelle eingeschaltet, die dann geholfen hat. Also es war ein wahnsinniges, durchdachtes System, die Menschen eigentlich glücklich zu machen und glücklich dann zu halten.“

Konrad R. und Freundin am Kyffhäuser (aus „Stau – Jetzt geht’s los“, 1992) (Min. 06:31)

Konrad R.: „Die Jugendbewegung, man kann sie Skin-Bewegung nennen, oder die Bewegung, wo eben Skinheads zusammengefasst sind, die ist ja auch breit gefächert. Eigentlich gibt‘s von links nach rechts über Mitte, die überhaupt nicht politisch sind… Und unsere Gruppe – wir, die uns jetzt in Halle gefunden haben – wir versuchen… Gut, wir haben alle unsere politische Meinung und das ist ja jedem seine persönliche Sache. Aber in der Gruppe versuchen wir die Meinung nicht politisch durchzusetzen, weil das… weil das im Moment nicht möglich ist. Wir versuchen… wir haben zwar alle unsere politische Meinung, wie auch immer geartet, aber im Moment ist erstmal das Wichtigste, dass wir… dass wir zusammenhalten. Das ist überhaupt der Sinn der Jugendbewegung, das ist Kameradschaft da, das ist die Jugendbewegung der Skinheads, überhaupt Kameradschaft, so bisschen von dem System abgliedern, das hat eigentlich gar nichts mit Politik zu tun. Das ist so eine Bewegung von Jungs, von Jugendlichen auf der Straße, ist das einfach eine Bewegung.“

Freundin: „Das Leben ist schwer und hart, aber man muss… irgendwie muss man durchkommen und muss eben das Beste draus machen, so seh‘ ich das. Und das ist jetzt, ist egal jetzt. Ich meine, wir müssen alle… Ich bin der Meinung, alle Menschen sollten eben zusammenhalten. Und ich meine, das ist jetzt wie von früher eben gesehen, dass man eben sagt, das Volk soll zusammenhalten. Aber ich finde, gerade wenn alle Menschen sich stark machen, dann gerade wird es wieder klappen, dass es vielleicht doch dann… vielleicht dass auch uns mal die auf der anderen Seite eben akzeptieren. Weil, ich hab das erlebt, ich war selber jetzt mit… Ich hab‘ einen Freund gehabt drüben und die haben uns immer so als die dummen Ossis gesehen. Und ich habe mich, ich kam mir da manchmal so richtig blöd und unter… untergeordnet vor… und so bettelnd… und ich weiß nicht… und dann kam man sich auch so… da kam man sich auch so arm vor … wie so ein Arm[er]… wir leben jetzt so im Armenviertel… oder alleine, als wir Besuch hatten … und der Gedanke schon… der erste Gedanke, wo der Besuch kam eben… da sagte er: Naja, ihr lebt hier ja wie im Ghetto. Vor allem, die können nicht verstehen, wie wir hier gelebt haben die ganze Zeit. Und vor allem, das ist unmenschlich so… manchmal denken sie wirklich unmenschlich… bloß… irgendwo gehören wir ja auch zusammen.“

„Kameradschaftsabend“, Lied vom „großen Glück“, Jeannette G. (aus „Neustadt [Stau – der Stand der Dinge]“, 2000) (Min. 09:03)

Redner auf „Kameradschaftsabend“: „[Es gab] in der Vergangenheit in der rechten Bewegung in Deutschland zu viele Gruppen, die schnell groß geworden sind und dann aber genauso schnell wieder klein, beziehungsweise sogar verschwunden sind. Und das ist ein weiteres Ziel, dass wir uns davon auch unterscheiden. Das heißt, dass wir gemeinsam kontinuierlich arbeiten, über Jahre und nicht nur über ein paar Monate oder über ein paar Wochen. Das war jetzt nochmal ein Anliegen von mir. Ich bedanke mich.“

Mann mit Baskenmütze, Liedtext: „Und ich fuhr mit ihr in der Straßenbahn, und sie war mein großes Glück. Und ich brachte sie um Mitternacht ganz heimlich nach Haus zurück. Hat sie alles vergessen, wie schön es bei ihr war. Hat sie alles vergessen, denn die Zeit war so wunderbar. Und am Sonntag, da ging ich mit ihr durch die große, große Stadt. Und der Tag war so schön und die Sonne schien [unverständlich]. Und ich fuhr mit ihr in der Straßenbahn, sie war mein großes Glück. Und ich brachte sie um Mitternacht ganz heimlich nach Haus zurück.“

Jeannette G.: „Das ist fast… das Haus ist fast ganz leer. Das ist fast… hier wohnen kaum Leute drin. Zum Beispiel über mir zweie: wohnt keiner. Unter mir die nächsten zwei Wohnungen wohnt keiner. Neben mir und hier neben mir wohnt keiner. Das ist fast alles… ich bin die einzige. Ich kann richtig laute Musik anmachen, das stört hier keinen. Das ist klar, das ist auch… das ist… ich würde auch nicht freiwillig in das Haus einziehen hier. Das wird… Neustadt wird so ein richtiges… na so… zum… Ghettoviertel. Das ist… das… viele Ausländer… jetzt grad jetzt im Südpark hier, kommen viele Ausländer hin. Hier im Haus wohnen auch viele. Ich fühl‘ mich nicht mehr so wohl hier… Ich hab mich mal wohlgefühlt als Kind, aber jetzt nicht mehr.“

Frage: „Was hat Dir gefallen?“

Jeannette G.: „In meiner Kindheit? Was mir gefallen hat? Ach so, na als Kind hat man das vielleicht alles anders gesehen hier so. Konnt‘ man richtig rumtollen auf der Straße, waren nicht so viel Autos, gab’s keine Gewalt groß. Oder wir haben es nicht richtig mitgekriegt? Das ist alles jetzt anders.“

Interpretationsvorschläge

Ist das Private politisch? Sind individuelle und alltägliche Lebensverhältnisse über sich selbst hinaus von Bedeutung? Hinterlässt selbst noch der Rückzug in die vermeintliche Nische Spuren in einer Gesellschaft? Meist werden diese Fragen mit Ja beantwortet. Thomas Heises Dokumentarfilme „Stau – Jetzt geht’s los“ (1992) und „Neustadt (Stau – der Stand der Dinge)“ (2000) wurden jedoch gerade deshalb zu Skandalfilmen, weil sie die Maxime vom ,politischen Privaten‘ ernst nehmen.

Wohnen hat zunächst mit gesellschaftlichem Status zu tun. Dieser bemisst sich nicht nur materiell, sondern auch ideell: Die Mutter des Neonazis Konrad R. erlebte sich solange in einem sinnvollen Leben, wie sie „alles dafür geben“ konnte, dass der Sozialismus „in Gang kommt“. Sie pflegte nach ihrer Arbeit die Außenanlagen der Neubauten – „um das Schöne zu erhalten, was neu gebaut wurde“. Nach der Wende sitzt der Neonazi Roland M. inmitten dieser Anlagen, die nun verwahrlosen. Wie in Reaktion darauf sagt er im Film, „irgendwie fühl‘ ich mich jetzt alleingelassen“ und wünscht sich das System der autoritären Fürsorge aus der DDR zurück.

Die Jugendlichen erleben ihren sinkenden (Wohn-)Status auch im Kontakt mit Westdeutschen, die auf Besuch in Halle-Neustadt sagen, „ihr lebt hier ja wie im Ghetto“. Im Jahr 1992 wird dies von den Hallenser:innen noch als „unmenschliches Denken“ wahrgenommen, das ihrem völkischen Ideal von Kameradschaft und Zusammenhalt entgegensteht. Im Film „Neustadt“ (2000) ist das Etikett „Ghetto“ dann in die Selbstwahrnehmung übernommen. Jeannette G. sagt: „Neustadt wird so ein richtiges … na so … zum … Ghettoviertel.“

Jeannettes Leben im Neubau ist ein Wohnen mit Ängsten vor dem Hausflur und der Straße, mit Vorurteilen gegenüber Ausländer:innen und verklärten Erinnerungen an die DDR-Kindheit: Da „gab’s keine Gewalt groß.“ Doch gleich darauf fragt sie sich: „Oder wir haben es nicht richtig mitgekriegt?“ Thomas Heise reicht auch diese Frage unkommentiert an die Zuschauenden weiter: Was ist mit den eigenen Gewalterfahrungen und den eigenen Gewalttätigkeiten? Sind diese wirklich so fern, dass es ausreichen könnte, die Neonazis im Film aus sicherer Distanz zu verurteilen? In ihrem Wohnumfeld, beim Kuchenbacken und in ihrem Alleingelassen-Sein rücken sie den Zuschauenden näher, als es für manche erträglich ist.

Weitere Ausstellungskategorien

Gewalträume/Schutzräume Träume & Albträume

Quellenkritik

Wir lernen die Neonazis der Halle-Neustadt-Filme vor allem in ihren Wohnungen und Wohnumgebungen kennen. Thomas Heise bestätigte, dass die Jugendlichen im Film aus einer rechten Ideologie heraus sprachen: So erklärten sie etwa ihr prekäres Leben und Wohnen in Halle-Neustadt schlicht mit der Anwesenheit von Ausländer:innen. Der Regisseur betonte aber auch, dass während der Filmarbeiten ein Rest geblieben sei, der anders als ideologisch erklärt werden musste. Er wandte sich daher den Familien in ihren Wohnungen zu und befragte sie dort nach ihren Wünschen und Träumen.