Neue, größere Stadt. Erich Honecker übergibt die einmillionste Wohnung in Berlin-Marzahn

Wohnen

Exponatentyp
Fernsehbeitrag, Video
Datum
25.08.1978
Dauer
03:54 min

Neue, größere Stadt. Erich Honecker übergibt die einmillionste Wohnung in Berlin-Marzahn

Wohnen

Der Fernsehbeitrag läuft im August 1978 in der DDR-Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“. Er zeigt die feierliche Übergabe der einmillionsten Neubauwohnung im Rahmen des großangelegten Wohnungsbauprogramms der Ära Honecker. Der Beitrag ist Teil einer intensiven Medienkampagne – wie sie auch im Neuen Deutschland sichtbar wird. Auffällig ist die inszenierte Nähe des Partei- und Staatschefs zur Bevölkerung: Erich Honecker besucht eine Baustelle in Berlin-Marzahn, spricht mit Arbeitern, besucht die Familie Großkopf in ihrer neuen Wohnung, trinkt Kaffee, isst Kuchen. Er wirkt fast wie ein Familienmitglied.

Im Unterschied zu späteren Berichten wirkt dieser Beitrag persönlicher und emotionaler. Doch gerade diese Nähe ist Teil einer gezielten medialen Erzählstrategie: Die politische Führung wirkt volksnah, das Bauprogramm als gelebte sozialistische Errungenschaft. Der Beitrag regt dazu an, die Rolle der Medien in der DDR nicht nur als Informationsquelle, sondern als aktives Werkzeug politischer Selbstdarstellung zu hinterfragen – und ihre Wirkung auf damalige wie heutige Zuschauer:innen genauer zu untersuchen.

Min. 01:45: Erich Honecker besucht die Wohnung

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Allgemeine Informationen

Titel: Übergabe der einmillionsten Wohnung im Beisein von Erich Honecker in Berlin-Marzahn. Aktuelle Kamera, 25.08.1978.

Medienart: Fernsehbeitrag, Video

Jahr: 1978

Gesamtänge: 17:33 Minuten

Besitzende Einrichtung: Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv

Empfohlene Zitierweise: Übergabe der einmillionsten Wohnung im Beisein von Erich Honecker in Berlin-Marzahn. In. Aktuelle Kamera, 25.08.1978. Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv, DRA-IDNR 531542. Abgerufen unter: https://dut-ausstellung.de/source/neue-groessere-stadt-erich-honecker-uebergibt-die-einmillionste-wohnung-in-berlin-marzahn/.

Quelle in der digitalen Sammlung der Thulb

Transkript

Hermann Großkopf [H.G.]: „[…] Erich Honecker, auch im Namen meiner Frau, meines Kindes und sicher im Namen aller Bürger unseres Landes, deren Wohnungsproblem schon gelöst werden konnte, den allerherzlichsten Dank aussprechen.“

Off-Sprecher: „Hermann Großkopf, der hier dankt, ist Brigadier und Bestarbeiter und hat seinen Arbeitsplatz in der Werkzeugmaschinenfabrik Marzahn. Und wie er hat auch mancher andere der neuen Mieter jetzt diesen kurzen Weg zur Arbeitsstelle, die Freizeit vergrößert sich. Die Vorzüge des sozialistischen Staates, wo gesellschaftliches Eigentum an Grund und Boden Spekulationen ausschließt, haben hier das humanistische Anliegen der Architekten ohne Abstrich Wirklichkeit werden lassen. Hermann Großkopf erlebt mit dieser Schlüsselübergabe den direkten Zusammenhang zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik.“

H.G.: „Ich versichere Dir als Teilnehmer der zweiten Berliner Bestarbeiterkonferenz der Hauptstadt der DDR, Berlin: Die Arbeiterklasse, die Intelligenz und alle anderen Werktätigen werden durch hohe Leistungen in der Produktion zu Ehren des dreißigsten Jubiläums unseres Arbeiter- und Bauernstaates auch in Zukunft ihren Beitrag zur Verwirklichung des auf dem IX. Parteitag beschlossenen Programms des Wachstums, des Wohlstands und der Stabilität leisten. Herzlichen Dank!“ [Honeckers Worte unverständlich]

H.G.: „Vielen Dank!“

Erich Honecker [E.H.]: „Alles Gute! Alles Gute! Alles Gute!“

Erich Honecker besucht die Wohnung (Min. 01:45)

H.G.: „Darf ich Sie einladen, die ersten Gäste in meiner Wohnung zu sein?“

Jana Großkopf [J.G.]: „Wollen wir mal gleich die Wohnung zeigen! Die Küche…“

H.G.: „Wir haben die Küche hier.“

J.G.: „…eingeräumt…“

Off-Sprecher: „Marchwitzastraße 129, vierter Stock links, von nun an die neue Adresse der Familie. Vor zwei Tagen sind sie mit ihrer neunjährigen Tochter Kathrin in diese geräumige Dreizimmer-Neubauwohnung gezogen. Frau Großkopf, Lehrerin für Mathematik und Geografie an der nahegelegenen 19. Oberschule, lädt zu einer Besichtigung.“

J.G.: „Im Bad haben wir auch nur nen [unverständlich]. So, und hier ist das Zimmer der Kathrin.“

E.H.: „Tatsächlich, na, Kathrin, das ist aber toll! Ich muss sagen, so’n Zimmer hatt‘ ich in meiner Jugend nicht gehabt.“

J.G.: „Ja, das hätten wir uns auch gewünscht.“

E.H.: [unverständlich]

J.G.: „Ja, ja.“

E.H.: „Das ist wirklich schön, ist geräumig! Und so sind die Kinderzimmer?“

Off-Sprecher: „Um Wohnungspolitik geht es dann auch bei dem Gespräch am Kaffeetisch.“

E.H.: „[unverständlich] 1990 die Wohnungsfrage als soziale Frage lösen wollen, das heißt, circa 2,8 bis…“

Konrad Naumann [K.N.]: „Bis drei Millionen.“

E.H.: „…drei Millionen neue Wohnungen bauen. Wenn man sich das jetzt überlegt, in sieben Jahren, sieben Jahren, siebeneinhalb, ja, eine Million, also Jahr pro Jahr, Aufgaben uns gestellt und bereits achtund…, 85, 85 wird die Lage schon ganz anders aussehen. Wenn man also das bisherige Tempo beibehält.  Jetzt kommt man hier in dieses Gebiet hinein, das ist ja wirklich ne neue Stadt.“

J.G.: „Ja, hier stand ja bis vor einem Jahr gar nichts weiter.“

E.H.: „Ja, und mein Fahrer sagt: Ich kenn mich nicht mal hier aus. Sagt er: Ist ja ne neue Stadt.  Ist ja hier gebaut.“

J.G.: „Ja, ich bin gestern einkaufen gewesen, ich hab mich gar nicht mehr zurechtgefunden. Musste erst mal den Weg suchen. Sehr schön gemacht, ja, sehr schön.“

E.H.: „In der Farbgestaltung wunderbar, ja, wunderbar.“

Off-Sprecher: „Zum Abschluss noch ein Blick vom Balkon.“

K.N.: „Die Schüler machen sehr viel [unverständlich].“

J.G.: „Ja, das find ich übrigens auch ganz toll, dass die Schüler jetzt zwei Wochen hier arbeiten gehen dürfen, sich Geld verdienen dürfen…“

E.H.: „Schön, ja.“

J.G.: „… und dabei unseren Staat doch so in der Entwicklung unterstützen, das finde ich einfach prima.“

E.H.: „Ja, ist ja auch erzieherisch wirksam.“

J.G.: „Ja, finde ich wertvoll.“

Interpretationsvorschläge

Der Fernsehbeitrag aus der „Aktuellen Kamera“ zeigt, ähnlich wie der ND-Artikel, das Wohnungsbauprogramm aus staatlich-propagandistischer Perspektive. Es wird der Besuch Honeckers auf der Baustelle, die Feierveranstaltung und die Übergabe der einmillionsten Wohnung an die Arbeiterfamilie Großkopf gezeigt. Dabei wird das Genre der Reportage bedient, die Kameraführung bleibt nah an den Beteiligten, die Szenen wirken kaum gestellt, die Gespräche entwickeln sich scheinbar spontan. Dadurch wird der Eindruck erzeugt, es werde eine unverstellte Wirklichkeit gezeigt. Die Zuschauenden sollen nicht die Baustelle sehen, das Unfertige oder Unschöne der Blöcke, sondern die „neue Stadt“, von der Honecker spricht, ein „größeres Berlin“. Damit werden Träume von einem neuen und besseren Leben für die ganze Bevölkerung bedient: eine Wohnung für jedermann und jede Familie, ausreichend Wohnraum und moderne Lebensverhältnisse.

Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass Probleme des Wohnungsbauprogramms indirekt thematisiert werden. So wiesen die manchmal innerhalb von drei Monaten hochgezogenen Plattenbauten qualitative Mängel auf, die den neuen Bewohner:innen schnell ins Auge fielen und die Wohnqualität minderten. Die Wände waren dünn, die Wohnungen hellhörig.

Probleme im realen Sozialismus durften nur dann angesprochen werden, wenn sie gelöst werden konnten oder bereits gelöst waren. So ist die Kritik am schnellen Komplexbau der zweifach wiederholten und damit bestärkten Aussage des Vorarbeiters zu entnehmen, dass alle Wohnungen von guter Qualität seien. Auf diese Weise antwortet der Vorarbeiter auf die in der Gesellschaft kursierenden, zwar nicht öffentlich gemachten, aber etwa in Eingaben festgehaltenen Problemdiagnosen. Das Wohnen war ein Schwerpunkt der in Eingaben behandelten Themen.

Im Vergleich zu späteren Festveranstaltungen im Kontext von Jubiläumswohnungen wirkt der Beitrag auffällig wenig montiert. Als sich in den 1980er Jahren die politische Krise verschärfte und die gesellschaftliche Kritik vernehmbarer wurde, wurden nur noch ritualisierte Festveranstaltungen im Fernsehen gezeigt, Funktionärsreden und klatschende Menschenmengen. Der hier vorliegende Beitrag zählt zwar ebenso zur propagandistischen Berichterstattung, ist dabei aber vermeintlich wirklichkeitsnäher aufgebaut. Dadurch, dass die Kamera dicht an die Beteiligten und ihre Gespräche heranrückt, entsteht der Eindruck einer ungestellten Berichterstattung. Daraus folgt aber auch, dass Erich Honecker bei seiner Rechenaufgabe an der Kaffeetafel in der neuen Wohnung der Familie Großkopf nicht ganz orientiert wirkt. Wie er den Stand des Wohnungsbauprogramms resümiert und dabei ins Stottern kommt, konnte auf die Zuschauenden unvorbereitet wirken.

Besondere Aufmerksamkeit verdient die Szene, als Jana Großkopf, eine Lehrerin für Mathematik und Geografie, Erich Honecker „das Kinderzimmer der Kathrin“ zeigt. Der Blick hinein offenbart einen sterilen Raum mit – aus heutiger Perspektive – wenig kindlichen Möbeln. Wer den Beitrag heute schaut, denkt weniger an ein Kinderzimmer als an ein Wohnzimmer. Aufschlussreich erscheint, dass Erich Honecker und Jana Großkopf schnell Einigung darüber erzielen, dass es in ihrer Jugend solche Kinderzimmer nicht gab, sie sich darüber glücklich geschätzt hätten. Diese Szene sowie die letzte Einstellung auf dem Balkon profitiert davon, dass hier die Interessen und Meinungen zwischen politischer Führung und Bevölkerung sichtbar übereinstimmen. Jana Großkopf spricht im Sinne des Systems dem Wohnungsbauprogramm eine wichtige gesellschaftliche Funktion zu und fungiert als eine Art Lautsprecher des Systems. In ihrer auch mimisch bestätigenden, affirmativen Art der Unterhaltung mit dem Staatsführer erfüllt sie die Aufgabe, den guten Sinn der staatlichen Politik aus der Bevölkerung heraus zu beglaubigen.

Die Kameraschwenks über die Baustelle – einmal ist ein Schild mit der Aufschrift „Großbaustelle“ im Bild – zeigen aber, dass die Propaganda von der Verwirklichung des guten Wohnens und die Realität der Großbaustellen noch voneinander abweichen. Es ist interessant, dass in der Reportage das Unfertige noch sichtbar ist, aber die Erfüllung schon erfolgt scheint.

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