Gewalträume/Schutzräume

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Zwischen Gefahr und Geborgenheit

Zwischen Gefahr und Geborgenheit

Ob in der Schule, im Wohnheim oder gegenüber Behörden: Schutz- und Gewalträume bestimmen, wie Menschen sich im Alltag bewegen und wie sie ihren Alltag erfahren. Gewalt- und Schutzräume sind nicht statisch, sondern Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse, die sich historisch wandeln – und mit ihnen die Bedingungen für Sichtbarkeit, Teilhabe und Unversehrtheit.

In der DDR ging Gewalt oft vom Staat aus – durch Überwachung, politische Verfolgung oder Kontrolle im Alltag. Zugleich ermöglichten staatliche Strukturen aber auch Sicherheit und soziale Stabilität. Die Gleichzeitigkeit von Fürsorge und Kontrolle zeigte sich ebenso im Privaten: Familiäre oder freundschaftliche Netzwerke konnten Rückhalt bieten, waren aber auch Räume von Ausgrenzung, Druck oder Schweigen. Mit dem Systemumbruch 1990 veränderten sich die staatlich geschaffenen Schutz- und Gewalträume grundlegend, zugleich aber zeigten sich auch Kontinuitäten von Gewalt und Ausgrenzung, etwa in Ausländerfeindlichkeit und eskalierenden rassistischen Übergriffen.

Erstvernehmung Manfred Walter, Tonbandmitschnitt einer Vernehmung durch das MfS, 11. August 1988

vorläufiger Personalausweis von Manfred Walter

Vorläufiger Personalausweis von Manfred Walter, Innenansicht

Manfred Walter, seine Familie und Freund:innen träumten von einem Leben in Freiheit – außerhalb der DDR – und planten ihre Ausreise. Doch der Wunsch wurde für sie zum Albtraum: Ausreiseanträge führten häufig zu negativen Konsequenzen für die Antragsteller:innen. So auch für Manfred Walter. Die Staatssicherheit verhaftete ihn und seine Freund:innen. In der Gewalt des Staates war er seinen Vernehmern ausgeliefert. Das Verhör zeigt die Macht und das Machtverständnis des MfS unmissverständlich auf.

Auszüge aus den Haftakten von Manfred Walter, Einlieferungsanzeige und Haftbefehl

Auszüge aus den Haftakten von Manfred Walter, Einlieferungsanzeige und Haftbefehl

Auszüge aus der Stasi-Akte von Manfred Walter, Haftakten, BArch, MfS, BV Eft AOP 926-89 Bd. 1, geschwärzt, Einlieferungsanzeige und Haftbefehl, Seite 2

Nach der Erstvernehmung wurde Manfred Walter in die Untersuchungshaftanstalt Andreasstraße in Erfurt eingeliefert. Gegen ihn wurde ein Haftbefehl ausgestellt. Aus seinem Wunsch, die DDR mit seiner Familie zu verlassen, wurde ein Straftatbestand konstruiert. Nun war er politischer Gefangener und befand sich in der Gewalt der Staatssicherheit.

Auszüge aus der Gerichtsakte von Manfred Walter, Urteil

Auszüge aus der Gerichtsakte von Manfred Walter, Urteil

Auszüge aus der MfS-Akte von Manfred Walter, Gerichtsakte, BArch, MfS, BV Eft AU 107-89 Bd. 3, geschwärzt, Deckblatt, S. 321-324, S. 1

Sein jahrelanges Ausreiseersuchen führte schlussendlich zu seiner Verhaftung. Das Bezirksgericht Erfurt verurteilte ihn wegen „zusammen begangener Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit“ – ein politischer Straftatbestand – zu eineinhalb Jahren Gefängnis. Aus der Haft heraus wurde Manfred Walter im März 1989 in die Bundesrepublik freigekauft.

Chilenische Exilanten: Zwischen Tabu, Angst und Ankunft

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„Exil“ (Filmausschnitt Emilio F.)

Nach dem Militärputsch Pinochets in Chile im Jahr 1973 flohen über eine Million Menschen ins Ausland. Die DDR gewährte im Zeichen „internationaler Solidarität“ rund 2.000 Chilen:innen Asyl. Einer von ihnen war Emilio F. Für ihn bedeutete die DDR Schutz und Zuflucht, gleichzeitig blieb sie ihm stets fremd. Im Interview schildert er seine Erfahrungen im Exil: Er erzählt von Enttäuschungen im Alltag und im Berufsleben, von Problemen mit den Behörden und von seiner erfahrenen Perspektivlosigkeit.

Rassistische Diskriminierung im Studentenwohnheim: Interview mit Ralf Jähne (Pseudonym)

Vierbettzimmer in einem Wohnheim, zwei Doppelstockbetten an den Wänden, in der Mitte des Zimmers ein Tisch mit Stuhl

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Symbolbild: Vierbettzimmer in einem Studierendenwohnheim 1974, Universitätsarchiv Leipzig

Die Migration aus befreundeten sozialistischen Bruderstaaten führte auch zahlreiche Student:innen in die DDR. Anders als viele Arbeitsmigrant:innen wohnten sie nicht isoliert, sondern gemeinsam mit einheimischen Studierenden in Wohnheimen. Im Interview erinnert sich Ralf Jähne an Alltagsrassismus, den er während seiner Studienzeit beobachtete. Besonders für Menschen aus afrikanischen Ländern wurde das Wohnheim, als Rückzugsraum gedacht, so auch zu einem Gewaltraum.

KW „Biene“ – Geheimtreffen und Gesellschaftsberichte der Stasi

Geheimtreffen und Gesellschaftsberichte der Stasi

BArch, MfS, BV Erfurt, AIM 1909/87 – KW „Biene“, S. 3

Ein Beispiel für die weitreichende Durchdringung privater Lebensverhältnisse durch den Überwachungsapparat des MfS ist die Akte zur KW „Biene“. Konspirative Wohnungen (KW) waren Zimmer oder Wohnungen von Privatpersonen, in denen Führungsoffiziere der Staatssicherheit ihre Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) trafen. Die Aussagekraft der Akte liegt in ihrer Perspektive: Sie zeigt, wie das MfS dachte, plante und kontrollierte.

KW „Katja“ – Stasi-Treffen im Pflegeheim

KW „Katja“ – Stasi-Treffen im Pflegeheim

BArch, MfS, BV Erfurt, AIM 35/89 – KW „Katja“, S. 20

In einem Pflegeheim am Stadtrand von Erfurt fiel zusammen, was gegensätzlicher kaum sein könnte: Fürsorge und Überwachung. Die dort eingerichtete Konspirative Wohnung (KW) nutzte das MfS für Erstkontakte mit Inoffiziellen Mitarbeitern (IM). Aus Sicherheitsgründen erschien das Pflegeheim besonders geeignet: Die dort lebenden Personen galten als unzurechnungsfähig, wodurch eine Enttarnung als unwahrscheinlich eingeschätzt wurde.

Angriff mit Ansage

Angriff mit Ansage

Fotografie von Claus Bach
„Gerberstraße Weimar“, 2.10.1990, ca. 22:30 Uhr, Angriff von Neonazis auf das besetzte Haus Gerberstraße 3

Medial wenig beachtet kam es schon am Vorabend des 3. Oktober 1990 zu einer Vielzahl von Gewaltakten – auch gegen alternativ lebende Menschen, die sich in besetzten Häusern einen sicheren Raum schaffen wollten. Dem Fotografen Claus Bach gelang in dieser Nacht eine der seltenen Aufnahmen dieser gewaltsamen Angriffe in der Gerberstrasse 3 in Weimar. Dabei befand er sich selbst in einer höchst gefährlichen Situation, die ihm kaum Handlungsspielraum ließ.

Rassistische Übergriffe

Bereits für die 1970er und 1980er Jahren zeigen verschiedenen Quellen, dass migrantische Arbeiter:innen rassistischen Anfeindungen und Angriffen ausgesetzt waren. Gegen Ende der 1980er Jahre nahm die Gewalt durch organisierte rechte Gruppen spürbar zu. Mit dem Umbruch 1989/90 eskalierte die Gewalt zunehmend in Ost- wie Westdeutschland.

In Hoyerswerda fanden erste pogromartige Übergriffe im September 1991 statt. Über diese wurde medial intensiv berichtet – auch international. Der Ortsname steht symbolisch für die Gewaltwelle der 1990er Jahre. Er ist heute Teil des kollektiven Gedächtnisses an die rassistischen Ausschreitungen der 1990er Jahre.

Rassismus aus der Mitte der Gesellschaft – die Perspektive eines Vertragsarbeiters

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„Viele habe ich erkannt – Gedächtnisprotokoll eines mosambikanischen Vertragsarbeiters in Hoyerswerda“

Die Bilder der rassistischen Pogrome sind Teil eines medialen Gedächtnisses, nur selten kommen jedoch die Betroffenen zu Wort. Die Filmdokumentation gehört zu den wenigen Quellen, die Lebensrealität, Rassismus und rechte Gewalt der frühen 1990er Jahre aus Sicht eines mosambikanischen Arbeiters zeigen. Manuel Alexandre Nhacutou begreift sich nicht nur als Betroffener von Alltagsrassismus und Gewalt, sondern als selbstbewusster Akteur.

Hakenkreuze auf dem Boden. Rechte Drohgewalt während der ,Baseballschlägerjahre‘

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Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm „Amadeu Antonio“, Regie: Thomas Balzer, 1992.

Amadeu Antonio war in den 1980er Jahren als ,ausländischer Werktätiger' aus Angola nach Eberswalde gekommen. Ende November 1990 wurde er von einer Gruppe Skinheads durch Tritte lebensgefährlich verletzt und starb wenige Tage später im Krankenhaus. In seinem ersten Dokumentarfilm über die Tötung Amadeu Antonios fängt Regisseur Thomas Balzer die Atmosphäre der Angst in den ,Baseballschlägerjahren' ein – und zeichnet damit ein eindrückliches Porträt von der Stadtgesellschaft nach dem Verbrechen.

Brandstiftungen. Gewalträume und Albträume vom Leben im vereinigten Deutschland

Thomas Blazer_Überleben in Eberswald_Filmstill

Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm »Überleben in Eberswalde«, Regie: Thomas Balzer, 2000.

Als Reaktion auf die Tötung Amadeu Antonios gründete sich 1994 in Eberswalde der Afrikanische Kulturverein Palanca e.V., der am Rande der Stadt einen Rückzugsort und Raum des Austausches sowie der antirassistischen Vernetzung schuf. Dass solche Schutzräume im vereinigten Deutschland über Jahre gefährdet waren und blieben, zeigt Thomas Balzer in seiner zweiten filmischen Auseinandersetzung mit Amadeu Antonio: So besucht er etwa die nach einem Brandanschlag völlig zerstörten Räume des Vereins.

Zeitungsbeiträge der „Vereinigung der Opfer des Stalinismus“ zu ausländerfeindlichen Pogromen in Deutschland, 1992/93

Zeitungsbeiträge der „Vereinigung der Opfer des Stalinismus“ zu ausländerfeindlichen Pogromen in Deutschland, 1992/93

Leitartikel der Verbandszeitschrift Freiheitsglocke der Vereinigung der Opfer des Stalinismus, Dezember 1992 und Januar 1993

Eine Rechtfertigung der gewalttätigen Übergriffe veröffentlichte die Zeitschrift der Vereinigung der Opfer des Stalinismus e. V. (VOS). In der Freiheitsglocke konstruierte der ehemalige GULag-Häftling Eberhard Reese eine Schuldumkehr: Die Eskalation von Radikalisierung und Gewalt erklärt er mit der wachsenden Zahl Schutzsuchender und dem vermeintlichen Versagen staatlicher Stellen. Der Artikel stieß auf massive Kritik innerhalb des Verbandes.